Rezension: Tatjana Tönsmeyer, Unter deutscher Besatzung. Europa 1939 – 1945

Schon wieder ein Buch über die Zeit des Nationalsozialismus, könnte man sich denken. Aber gut, das kann man sich wohl seit gut 20 Jahren denken. Vielleicht länger. So alt bin ich nun wieder auch nicht. Und dennoch: Tatjana Tönsmeyer hat den Blick auf ein vernachlässigtes Thema gelenkt: Die Besatzungszeit, den Alltag von Zivilisten „unter den Nazis“, wenn man es so will. So zeigt sie, dass es nach wie vor weitläufig unterbehandelte Aspekte des Zweiten Weltkriegs gibt, dass es immer wieder Neues gibt, dass man immer tiefer bohren kann.

Zum Einstieg finden wir Landkarten. Landkarten Europas, die aufzeigen, wie weit die Kontrolle des nationalsozialistischen Deutschlands (in Verbindung mit Italien und den weiteren Achsenmächten) zum Zeitpunkt ihrer maximalen Ausdehnung 1942 reichte: Weit, sehr weit: „Auf dem Höhepunkt der deutschen Herrschaftsexpansion lebgten zwischen Nordnorwegen und den griechischen Mittelmeerinseln sowie zwischen der französschen Atlantikküste und Gebieten tief im Inneren der damaligen Sowjetunion 230 Millionen Menschen unter deutscher Okkupation“ (S. 14).

Eine Landkarte Europas aus dem Jahr 1942, die die Ausdehnung des nationalsozialistischen Deutschlands und die besetzten Gebiete zeigt, farblich markiert zur Darstellung der Kontrolle.

Anfang und Ende, oben/unten, privat/öffentlich

So folgt Tönsmeyer einer Art Matrix, sie beschreibt die Zeit der Besetzung vom Anfang bis zum Ende, aber nicht plump-chronologisch, sondern in Hierarchien – Besatzer und Besetzte – oder in Bezug auf bestimmte Lebensbereiche, vom Privaten über (Zwangs-)Arbeit bis hin zur Bürokratie und Widerstand.

Das Ergebnis ist eine Gesamtdarstellung der Alltäglichen von Eroberung und Unterwerfung, von Kollaborateuren oder von Menschen, die das Beste aus der misslichen Lage machen wollten, wir sehen die Unterschiede zwischen Besatzung im West- und Osteuropa, lesen von anfänglicher Freude über die „Befreiung“ von den Sowjets und Hoffnungen auf Eigenstaatlichkeit (im Baltikum oder bei ukranischen Nationalisten, siehe S. 381ff.), „Gemeinsamkeiten“, also „common ground mit den Besatzern … im Antikommunismus und Antisemitismus“ (S. 402), von der „Dreieckskonstellation“ der Shoah – Opfer-Täter-Besatzungsgesellschaften (S. 409) – mitsamt „Antisemitismus als Bindeglied zwischen Besatzern und Besetzern“ (S. 440). Die Besatzung wird durch junge Deutsche verbildlicht, die als Soldaten das erste Mal ihr Land verlassen und sich „im Urlaub wähnten“ und „nicht verstehen konnten, dass ihre freundlich gemeinten Versuche, Kontakte zur französischen (oder belgischen) Bevölkerung herzustellen, auf wenig Gegenliebe stießen“ (S. 45), die sich „als diejenigen zeigten, die alles durften“ (ebd.). Dem ideologisch-bedingt hohem Personalaufgebot in Osteuropa (S. 305). steht die simple Erkenntnis gegenüber, dass man in ländlichen Gegenden „nur selten“ auf deutsche Soldaten traf (S. 130), weil die Besatzung „chronisch an Personalmangel litt“ (ebd.), stoßen auf sexuelle Gewalt (S. 479) und dem Vorwurf gegenüber Frauen, die aufgrund ihrer Beziehungen zu Deutschen, ob freiwillig oder aufgrund der Umstände, die nationale Ehre „besudelten“ (S. 163), lesen von Freizeitangeboten wie (karitativen oder Sport-)Vereinen und Kinos in Westeuropa (S. 386ff.), der „Anschlussfähigkeit“ des Marienkults (S. 393) oder vom unübersichtlichen bürokratischen Geflecht von Papieren, Formularen und unterschiedlichen Ämtern: „Aus Sicht der Einheimischen stellte sich die Besatzungdaher als unübersichliche Vielzahl von Maßnahmen dar, auf die sie keinen Einfluss hatten, die ihnen aber den Alltag erschwerten“ (S. 131).

Fazit

Das Ergebnis ist eine gelungene Übersicht, die auch manch weitere Forschungsprojekte anstößt (den Alltag besonders vulnerabler Personengruppen, also Kinder und Ältere, die während Angriffen zB keinen Schutz mehr suchen, weil sie es schlichtweg nicht schaffen oder es zu anstrengend wird). Ein Buch, das die popkulturell hinlänglich, vor allem in guten wie schlechten Filmen, verarbeitete Besatzungszeit entmystifiziert und den Blick auf jene richtet, die darunter litten, ohne das eigentliche Ziel der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gewesen zu sein, die das Kolonialprojekt „Ostraum“ mitsamt Deportations- und Versklaungsplänen (S. 375f.) ebenso herausarbeitet wie die dazugehörige Instrumentalisierung von „Volksdeutschen“, die sich zu sehr von ihrem Charakter als Herrenmenschen entfremdet hatten, weswegen „ihr Deutsch-Sein“ angehoben werden sollte („mit Heimatkalendern, Festivitäten wie Erntedankfeiern, bei denen die ‚deutsche <<Volksgemeinschaft>> gottesgleich zelebriert‘ wurde, oder Eheschließungen in Form von SS-Weihen“ (S. 379)). Kurzum: Ein dichtes, aber wichtiges Werk, das – wie Tatjana Tönsmeyer im Schlusswort betont – auch im Hinblick auf neue Besatzungskonstellationen (allen voran jene Russlands in der Ukraine) relevant bleibt.

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