Ich habe mir Toni Erdmann angesehen. Möglichst unbeeinflusst, also ohne davor (und auch nicht im Nachhinein) etwas dazu zu lesen. Ein schönes Abbild von Segmenten unserer Zeit. Wer Angst vor Spoilern hat (die es bei Filmen dieses Genres nicht wirklich gibt), liest auf eigene Gefahr weiter.
Toni Erdmann erinnert in gewisser Hinsicht an die Simpsons: Es ist für fast jeden was dabei. Manche Elemente sind leicht erkennbar, andere nur für jene, die genau hinschauen.
Neoliberalismuskritik
Gar offensichtlich ins Auge springt die sanfte Kritik am „Neoliberalismus“ beziehungsweise dem gegenwärtigen Wirtschaftssystem. Neoliberalismus, das ist in Toni Erdmann etwa die Auslagerung von Schuld. Der Konzern braucht eine externe Beratungsfirma, die Lösungen zu „Outscourcing“ vorschlägt, ja regelrecht aufdrängt. Aber in einer Weise, die ihn fast schon als Opfer der Umstände dastehen lässt.
In einem Rumänien, dessen Gesellschaft sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten fortbewegt. Die Modernisierungsverlierer bleiben zuhause, um sich überholen zu lassen, die anderen – die junge Managergeneration – zieht es hinaus. Gerade eben ist dazu passend in der Zeit ein Artikel zur Kehrseite der Grenzenlosigkeit erschienen, der sich mit den Folgen der Personenfreizügigkeit für die osteuropäischen Ländern auseinandersetzt: Rumänien verzeichnet einen „dramatischen Braindrain“, die klugen Köpfe gehen „ersatzlos“, bestehende Wohlstandsunterschiede einzementiert und nicht – wie erwartet beziehungsweise erhofft – ausgeglichen. Wer noch in Rumänien verweilt, möchte von den Xpats lernen, arbeitet unterwürfig und wartet auf die nächstbietende Gelegenheit, selbst aufzusteigen und sich abzuseilen.
Traurige Expats
Doch auch die Expats fristen ein karges Dasein. Soziale Exklusion der anderen Art. Chauffeur, schöne Wohnung, schicke Parties inklusive Drogenkonsum als Ausflucht aus der Tristesse in einem Land, in das man nicht gehört und das man auch baldmöglichst wieder verlassen will. Nicht, um in die Heimat zurückzukehren, sondern um attraktiver erscheinende Gefilde zu erobern. Ewig lockt die Singapur, Bukarest ist für die Protagonistin nur eine Zwischenstufe, die schon viel zu lange dauert. Erdrückend die oberflächlichen Gespräche und der berechenbar-leidenschaftslose Einsatz goutierender Worte „fasctinating!“, „wonderful.“ Freundschaften werden hier nicht einmal mehr zum Schein geführt. Man hat eben nur einander.
Diese Ent-Täuschung, also das Aufdecken falscher Annahmen, kennt man aus Erzählungen, der ein oder andere hat es selbst erlebt. Am Anfang einer Karriere noch das Hochgefühl des „Jetsetters“ wie er im Buche steht oder auf der Leinwand läuft, man fühlt sich wichtig, reist man doch in der Weltgeschichte herum wie George Clooney in Up in the Air. Bis man merkt, dass es nicht um einen selbst als Person geht, sondern lediglich das Unternehmen, für das man spricht: Jeder ist auswechselbar, die Person selbst bleibt bei allen Bonusmeilen auf der Strecke. Keiner weiß so recht, wo er anfängt und wo der Konzern aufhört?
In dieser allgemeinen Orientierungslosigkeit macht selbst der Chef nach einiger Überwindung beim „Nacktempfang“ mit. Wenn wir, wie Erving Goffman es ausformuliert hat, alle Theater spielen, dann vermischt der Ernst des Lebens sich manchmal unverwechselbar mit dem Absurden. So kann man es tatsächlich für möglich halten, dass der skurrile Toni Erdmann mit den seltsamen Zähnen einen Konzernboss „coacht“ (Extravaganz als Accessoire der Mächtigen, da ist sowas schonmal möglich, nicht wahr?!). Auch die spontane, aus einer persönlichen Krise heraus entstehende Entscheidung, bei einer kleinen Geburtstagsfeier an der Wohnungstür die ankommenden Kollegen nackt zu begrüßen und auch von ihnen das Ablegen der Kleidung zu verlangen, kann als eine seriös daherkommende „Teambuildung-Maßnahme“ daherkommen.
Die femistische Komponente
Die Protagonistin lebt außerdem in einem doppeltem Exil; neben der materiell-wohlbehüteten Expat-Welt bekommt sie ihr Geschlecht wiederholt um die Ohren geworfen: Sie wird schlichtweg nicht ganz ernst genommen, weder sexuell, noch beruflich. Am Ende des Tages soll sie als Shoppingpartnerin für die große blonde russische Ehefrau (Klischee olé!) des großen Bosses fungieren, ihre eigentliche Expertise findet nur wenig beziehungsweise selten Gehör. Um aus der von außen aufgezwungenen Rolle auszubrechen, muss sei mehr tun als andere, ihre Ideen setzen sich nur schwer durch und eigenständige Vorstöße werden kritisiert.
Parallel dazu die Arenen der Männlichkeit: Austausch über schöne Frauen, das Bukarester Nachtleben – klassisches „Bonden“, ausgetragen über Kanäle, in die eine Frau nicht vordringen kann. Nebenbei behandelt ihr wenig charmanter Liebhaber und Arbeitskollege sie – eventuell unter der verfehlten Maßnahme, dass sie seine tolpatschig-ungestüme Art als Begierde, ja gar als Kompliment auffassen soll – wie eine bloße fleischliche Hülle zur Verfolgung eines Zwecks, von dem er wohl selbst nicht weiß, wieso er ihn verfolgt. Am Ende hat keiner der beiden was davon.
Die große Entfremdung
So viel zu den offensichtlichen Elementen von Toni Erdmann. Darunter lauert eine tiefenpsychologische Komponente, die sich mir auch zugegebenermaßen erst im obligaten „und, wie hat dir der Film gefallen“-Gespräch erschlossen haben. Die Entfremdung zwischen Vater und Tochter, die sich nichts mehr zu sagen haben. Nicht obwohl, sondern gerade weil sie sich so selten sehen und völlig unterschiedliche Leben führen. Erst die seltsame und einigermaßen verstörende Scharade des Vaters ermöglicht eine zaghafte Annäherung. Die Tochter bricht ein wenig aus dem enggeschnürten Korsett des Businesslebens aus, der Vater tastet sich an eben jenes heran. Beiden steht die jeweils andere Hülle nicht, aber es reicht, um einander wenigstens kurz die Hand zu reichen.
Wenig verwunderlich, dass die große Umarmung, keine große Aussöhnung ist, sondern bloße Annäherung. Die obendrein nur mit einem vollends kostümierten und völlig unkenntlichen Vater passiert. Wobei eine Annäherung angesichts der zuvor bestehendenden Distanz nicht so viel Veränderung zu bringen vermag, wie es auf den ersten Blick erscheint.
Eine Prise Weltschmerz
Zuletzt das große Unbehagen in einer Welt, die keinen Platz bietet, das Vater und Tochter in sich tragen. Die unausgesprochene Trauer ob der eigenen Existenz. Ansätze zu nur allzu bemühten aber sich regelrecht aufdrängenden halbphilosophischen Gesprächen wollen nicht fruchten. Bereits die Frage nach dem Wohlbefinden – bist du glücklich? – wird als Provokation aufgefasst. So schreit Toni Erdmann nicht nach einem zweiten Teil, denn man kann bereits jetzt ahnen, dass Singapur zwar ein anderes, aber wohl kein besseres Leben bereithält. Und dann?