Wir leben in Zeiten der Polarisierung, unsere Gesellschaft ist gespalten, Radikalisierung nimmt zu und überhaupt. Aber ist dem wirklich so? Was denken „die Leute“, was denkt „Otto Normalverbraucher“ wirklich? Wie schmal ist die Mitte wirklich (geworden) oder ist am Ende gar alles nicht so schlimm? „Triggerpunkte“ gibt eine ruhige Einordnung, die so manchen politischen Botschaften widerspricht.
„Konkurrenz der Statusgruppen“ und „Wettbewerb der Individuen“ statt „Kampf der Klassen“, „Inklusionsbereitschaft“ vs. „markante Schließungsinteressen“, von „Erlaubnistoleranz“ zur „Respekttoleranz“, „Veränderungserschöpfung“, die „Polarisierungsunternehmer“ auf den Plan ruft, die „Triggerpunkte“ für sich nutzen– eines muss man den deutschen Soziologen lassen, sie wissen, wie man Begriffe bildet (und prägt). Mit wenigen Worten lässt sich so viel sagen.
„Triggerpunkte“ beschreiben Maus/Lux/Westheuser als „jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen“ (Seite 245f). Sie gehen auf „Egalitätserwartungen“ (wieder so ein Wort) zurück, die in vier Bereichen getriggert werden: 1.) wenn der Eindruck besteht, dass neu angekommene Migranten in Sachen Sozialleistungen sogleich genauso behandelt werden wie lange ansäßige Deutsche. 2.) bei Übertretungen von „Normalitätsvorstellungen“, an denen marginalisierte Gruppen (Homo- und Transsexuelle) ebenso gemessen werden wie „Klimakleber“, „Clan-Angehörige“ oder „arbeitsunwillige Arbeitslose“. 3.) bei „Entgrenzungsbefürchtungen“, also der Sorge vor dem, was man gerne als „slippery slope“ bezeichnet, also das „wenn wir X erlauben, folgt Y als nächstes? Wo soll das alles hinführen“? 4.) Verhaltungszumutungen, also das gute alte „man darf nicht mehr [das N-Wort sagen]“ oder „auf einmal muss man [gendern, politisch korrekte Sprache verwenden]“.
Mau/Lux/Westheuser beschreiben Fokusgruppen, in denen über Themen auf eine Art gesprochen wurde, die so vielen von uns bekannt vorkommen. Themen, die aufregen und Themen, wo schnell mit einem „ja von mir auf“ reagiert wird. Anhand einer Polaritätsmatrix – materielle Ungleichheit (oben-unten-Ungleichheit), Migration (innen-außen), Identität (wir-sie) und Generationengerechtigkeit (heute-morgen),
| Materiell | oben | unten |
| Zugehörigkeit | innen | außen |
| Identität | wir | sie |
| Generationen | heute | morgen |
Dabei kommen sie zu einem überraschenden Schluss: Die deutsche (aber wohl ebensowenig andere europäische Länder) Gesellschaft ist nicht so gespalten, wie man es angesichts täglicher Nachrichten und Diskussionen vermuten würde: Die Unterschiede sind zwar da, aber „keineswegs so fundamental und antagonistisch verfasst, wie der akademische Volksglauben es uns weismachen will.“ Der schwulen- und ausländerfeindliche Klimasünder ist immer noch eine – wenngleich besonders laute – Randerscheinung. Selbst der Gegensatz zwischen Ost- und Westdeutschen ist weniger stark, als man meinen möchte. Im Osten werden Quoten sogar häufiger unterstützt (!), eine mögliche Spätfolge der DDR-Arbeitspolitik (siehe dazu Kristen R. Ghodsee, Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben):
In der Zusammenschau können wir also keine sozialstrukturelle Spaltung der Einstellungen feststellen. In keiner unserer vier Arenen neigen die untersuchten Gruppen entgegengesetzten Einstellungspolen zu, es zeigen sich allenfalls graduelle Abstufungen. Nur Klassen- und Bildungsunterschiede sind in so gut wie allen Arenen bedeutsam, in der Wir-Sie-Arena tritt zudem das Alter als nennenswerter Faktor hinzu. Generell passt das Ausmaß der sozialen Einstellungsunterschiede jedoch kaum zu der Dramatik, mit der sie in den Medien oft dargestellt werden. Gerade in der Kombination verschiedener Merkmale erhöht sich zwar statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit bestimmter haltungen … Dies lässt sich aber nicht auf die Weise herunterbrechen, dass zwischen jeder Komponente dieses idealtypischen Profils ein Antagonismus bestpnde. Dafür sind die Differenzierungen innerhalb der Kategorien zu groß, und es ergeben sich zudem komplexe Kombinatoriken, die die Dinge verkomplizieren und uns von einem einfachen Schisma wegführen: etwa wenn sich inden älteren Generationen größere Migrationsskeptis mit einem stärkeren Bewusstsein für den Klimawandel paaren oder Ostdeutsche zwar skeptischer als Westdeutsche auf Zuwanderung und Klimapolitik blicken, nicht aber auf die Akzeptanz von Homosexuellen. Dies sind allesamt Mischungen, die nicht ins Passepartout eines Zwei-Lager-Schismas passen.
Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (Suhrkamp 2023), 302f.
Alles nicht so schlimm also? Naja, das wäre doch vereinfachend. Polarisierung lässt sich schüren und manchmal reichen Extremisten aus, um ein gesellschaftliches Gefüge ins Wanken zu bringen. Hier setzen Mau/Lux/Westheuser mit dem Begriff des „Polarisierungsunternehmers“ an, also Politikern oder Medienmachern, die von Gegensätzen leben und sie entsprechend beibehalten, betonen und auch vergrößern wollen. Sie leben von „Veränderungserschöpfung“, also dem Gefühl, dass zu viel, zu schnell und zu unaufhörlich anders wird. Darauf kann man mit Apathie, Rückzug und eben mit Wut reagieren. Und diese Wut wird eben von gewissen Stimmen aus Politik und Gesellschaft leidlich beackert.
Damit gibt das Buch Entwarnung und Warnung zugleich. Es gilt, die breite Mitte erstens zu kennen und zweitens zu erhalten. Dafür braucht es aber erst die Art von nüchterner Diagnose, die Mau/Lux/Westheuser mit Triggerpunkte geliefert haben. Unbedingte Lese-Empfehlung für alle, die der negativen Schlagzeilen überdrüßig sind.
Ralph Janik, Rezension von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft (Suhrkamp 2023), 27. Juni 2024
Danke für die Buchvorstellung. Meine Nachfrage:
Werden unter den sogenannten „Triggerpunkten“ also hauptsächlich Migranten und queere Menschen besprochen?
Zu den Egalitätserwartungen, Entgrenzungsbefürchtungen und Verhaltenszumutungen rege ich gerne an, globale Konzerne und Portal-Unternehmen voll, gleich und fair zu besteuern. Äußern sich die Autoren dazu?
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