Völkermord-Vorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof

Ein paar Erläuterungen zu Südafrikas Klage gegen Israel: Was ist Völkermord, warum kann Südafrika klagen, was wirft es Israel vor und wie steht es um die Erfolgsaussichten?

Völkermord: Das „Verbrechen aller Verbrechen“ (?)

Der Völkermord geht als völkerrechtliches Verbrechen auf den Holocaust zurück: Erfinder dieses Konzepts ist der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe die genozidalen Praktiken des nationalsozialistischen Deutschlands mit folgenden Worten beschrieb:

New conceptions require new terms. By ‘‘genocide” we mean the destruction of a nation or of an ethnic group. This new word, coined by the author to denote an old practice in its modern development, is made from the ancient Greek word genos (race, tribe) and the Latin tide (killing), thus corresponding in its formation to such words as tyrannicide, homocide, infanticide, etc. Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. The objectives of such a plan would be disintegration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of the personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belonging to such groups. Genocide is directed against the national group as an entity, and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity, but as members of the national group.

Ralphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, S. 70

Lemkin hatte sich später dafür eingesetzt, die führenden Mitglieder des nationalsozialistischen Deutschlands wegen dieses neuen Verbrechens zu verurteilen. Dazu ist es jedoch nicht gekommen, Lemkin gilt aufgrund seiner letztlich erfolglosen Versuche als historisch-tragische Figur, ein Überzeugungstäter, dem man lange nicht zugehört hat.

Die Völkermordkonvention

Langfristig hatte er jedoch Erfolg: Schon 1946 verabschiedete die UNO-Generalversammlung eine Resolution zum Völkermord, die ihn als „denial of the right of existence of entire human groups, as homicide is the denial of the right to live of individual human beings“ bezeichnet:

such denial of the right of existence shocks the conscience of mankind, results in great losses to humanity in the form of cultural and other contributions represented by these human groups, and is contrary to moral law and to the spirit and aims of the United Nations.
Many instances of such crimes of genocide have occurred when racial, religious, political and other groups have been destroyed, entirely or in part.
The punishment of the crime of genocide is a matter of international concern.
The General Assembly, therefore,
Affirms that genocide is a crime under international law which the civilized world condemns, and for the commission of which principals and accomplices whether private individuals, public officials or statesmen, and whether the crime is committed on religious, racial, political or any other grounds – are punishable;

A/RES/96

Zwei Jahre später folgte die Völkermordkonvention. Sie beinhaltet eine Definition des Völkermords (Artikel II) sowie die Pflicht, Völkermord zu verhindern und unter Strafe zu stellen (Artikel I und IV-VI).

[Völkermord ist] eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
b) Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
c) vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Völkermord ist also keine Frage von (Opfer-)Zahlen, sondern eine des Vorsatzes: die zumindest teilweise Zerstörung einer gesamten Gruppe. Streng genommen kann – dem Wortlaut zufolge – sogar eine einzelne Tötung Völkermord darstellen, wenn sie mit dieser Absicht begangen wird. Die meisten Völker- und Strafrechtler stellen allerdings auf den Kontext ab, in dem ein solcher (oder eine der anderen genannten Verbrechen) stattfindet. Ein isolierter Mord fällt so gesehen nicht unter den Begriff des Völkermords. Dem Wortlaut der Völkermord-Definition nach kann man es aber argumentieren.

Grundlage der Klage Südafrikas

Die Verpflichtung, Völkermord zu verhindern, geht jedoch über das Strafrecht hinaus. Auch andere Länder sind dazu angehalten und dürfen dementsprechend, beispielsweise, nicht mit Staaten oder bewaffneten Gruppen zusammenzuarbeiten, die einen Genozid begehen.

Oder können eben auch vor Gericht ziehen. So argumentiert Südafrika in seiner Anklageschrift, dass es „acutely aware of the particular weight of responsibility in initiating proceedings against Israel for violations of the Genocide Convention“ ist: „However, South Africa is also acutely aware of its own obligation — as a State party to the Genocide Convention — to prevent genocide“.

Hier spricht man von einer erga omnes partes-Verpflichtung. Also eine, die gegenüber allen Vertragsparteien einzuhalten ist. Und umgekehrt sind alle anderen Vertragsparteien aufgrund der Schwere des Verbrechens dazu berechtigt, bei Verletzungen zu reagieren. Grundlage für die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs (die nicht automatisch gegeben ist, sondern eigens begründet werden muss, entweder anlassbezogen, durch eine pauschale Vorab-Einwilligung oder, wie im vorliegenden Fall, eine Vertragsklausel) ist Artikel IX.

Streitigkeiten zwischen den Vertragschließenden Parteien bezüglich der Auslegung, Anwendung oder Durchführung dieser Konvention, einschließlich derjenigen, die sich auf die Verantwortlichkeit eines Staates für Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel III angeführten Handlungen beziehen, werden auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem Internationalen Gerichtshof unterbreitet.

Klage Südafrikas

Südafrika belegt seinen Vorwurf mit zahlreichen Aussagen israelischer (Regierungs-)Politiker, darunter Premierminister Benjamin Netanyahu (die berüchtigte Verweis auf das Volk Amalek), Präsident Jizchak Herzog (“It’s an entire nation out there that is responsible. It’s not true this rhetoric about civilians not aware not involved. It’s absolutely not true. … and we will fight until we break their backbone.”), Verteidigungsminister Yoav Gallant oder Innenminister Itamar Ben-Gvir („[t]o be clear, when we say that Hamas should be destroyed, it also means those who celebrate, those who support, and those who hand out candy — they’re all terrorists, and they should also be destroyed.”).

Ob diese und die weiteren Aussagen, in Verbindung mit dem Vorgehen Israels ausreichen, um einen Völkermord nachzuweisen, sei dahingestellt. Ich persönlich bezweifle es. Völkermord-Vorsatz – umso mehr, wenn es keinen dahingehenden Plan gibt (der fehlt bislang) – ist enorm schwer nachzuweisen.

Der zweite Vorwurf hat wesentlich bessere Erfolgsaussichten. So müsste Israel Strafverfahren gegen Personen einleiten, die einen Völkermord an den Palästinensern gutheißen oder gar fordern. Dazu ist es bislang nicht gekommen, was auch innerhalb Israels zu Kritik geführt hat (siehe hier). Das bedeutet nicht, dass Israel selbst einen Völkermord begangen hat bzw. begeht. Wohl aber, dass es nicht genug getan hat, um einen solchen, eine Art „genozidale Grundstimmung“, zu verhindern.

Warum Südafrika?

Manche mögen sich fragen, was Südafrika mit diesem Krieg zu tun hat. Es wurde selbst nicht angegriffen und weder unter den Opfern noch unter den Tätern sind südafrikanische Staatsbürger.

Aber: Völkermord hat eine Sonderstellung, manche bezeichnen ihn als „Verbrechen aller Verbrechen“ (eben aufgrund seines historischen Ursprungs, siehe oben). Die Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention sind gegenüber betroffenen Völkern, sondern allen Staaten – kurzum: der „international Community“ geschuldet.

Die andere – politische – Erklärung ist historischer Natur: Die Palästinenser wurden international, allen voran im Rahmen der UNO, zeitlich und politisch sehr ähnlich behandelt wie der südafrikanische Kampf gegen das Apartheid-Regime – das wiederum von Israel unterstützt wurde. Dass Südafrika nun Israel anklagt, ist also auch eine Rache der Geschichte.

Dazu kommt noch ein simpler geopolitischer Grund: Südafrika positioniert sich, alleine aufgrund seiner Mitgliedschaft in den Reihen der BRICS-Staaten, als Stimme des globalen Südens, die sich gegen das den USA nahe stehende Israel erhebt. Dazu gehört im Übrigem, dass es auch nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine weiter gute Beziehungen zu Russland pflegte: So hat Südafrika die Aggression nicht verurteilt, gemeinsame militärische Übungen („war games“) abgehalten oder sich geziert, Wladimir Putin festzunehmen, obwohl es als Vertragspartei des Internationalen Strafgerichtshofs dazu verpflichtet ist (siehe hier). Konsequenz in Sachen Völkerrecht sieht anders aus. Aber Konsequenz ist keine geopolitische Kategorie.

Israels Verteidigung

Israel betont wiederum (a) die Schwere der Massaker durch die Hamas vom 7. Oktober und das Recht auf Selbstverteidigung, (b), sich an das Recht bewaffneter Konflikte zu halten, auch durch Warnungen an die Zivilbevölkerung vor Angriffen, und (c), dass die Hamas es Israel aufgrund der Strategie, sich gezielt unter die Zivilbevölkerung und zivile Gebäde zu mischen, enorm schwierig macht, einen „sauberen“ Krieg zu führen.

Dazu einige Anmerkungen: (1) Rein-völkerrechtlich ist der Auslöser des Konflikts im vorliegenden Fall (!) egal. Man trennt den Kriegsgrund von der Art der Kriegsführung selbst. Sowohl Angreifer als auch Verteidiger sind vollumfänglich an die Menschenrechte und die Regeln des Krieges gebunden. (2) Ist das entscheidende Element nicht die Art der Kriegsführung, sondern, wie gesagt, der „genocidal intent“. Völkerrechtswidrige Militäroperationen, sei es, weil sie gezielt gegen Zivilisten durchgeführt werden oder grob verhältniswidrig sind, stellen für sich genommen kein Völkermord dar. Wohl aber können sie immer noch Kriegsverbrechen oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wenn sie Teil eines großflächigen oder systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung sind – bedeuten. Ob der Internationale Gerichtshof ein Urteil fällen würde, in dem sinngemäß steht, dass „Israel keinen Völkermord, wohl aber Kriegsverbrechen begangen hat“, bleibt offen. Das Gericht scheut sich allgemein davor, Fragen zu beantworten, die es nicht beantworten muss – und der vorliegende Fall dreht sich nunmal um Völkermord und nicht um andere Verbrechen.

Wie geht es weiter?

Im Moment befinden wir uns in der absoluten Anfangsphase des Verfahrens. Alles in allem kann es Jahre dauern, bis es ein Urteil gibt. Was weniger lange dauert, sind die sogenannten „provisional measures“, also eine vorläufige Anordnung: Das Gericht kann Israel schon zu Beginn, also in den nächsten Wochen, (verbindlich) dazu anhalten, gewisse Maßnahmen umzusetzen oder zu unterlassen, beispielsweise – wie von Südafrika gefordert – Völkermord zu verhindern, (mehr) humanitäre Hilfe zu leisten oder gar die Kampfhandlungen einzustellen. Ob es das tut, weiß ich nicht. Und ob Israel sich daran überhaupt halten würde, sei dahingestellt. Es darf bezweifelt werden.

Ein Kommentar zu „Völkermord-Vorwurf gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof

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