Spätestens mit der russischen Annexion der Krim werden im Bereich der Theorie internationaler Beziehungen die Realisten immer lauter. Das Ende der Geschichte bleibt folglich bis auf weiteres vertagt. Eine kleine Bestandsaufnahme.
Das Bild ist altbekannt. Nach Ende des Kalten Krieges herrschte in der Fachwelt weitgehend Euphorie. Francis Fukuyamas berühmter Artikel „The End of History“ und das nachfolgende gleichnamige Buch stehen sinnbildlich für eine Zeit, in der die großen ideologischen Fragen für beantwortet galten:
What we may be witnessing in not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.
Parallel dazu formulierte der große Thomas Franck die These eines entstehenden Rechts auf Demokratie („emerging right to democratic governance“):
Increasingly, governments recognize that their legitimacy depends on meeting a normative expecta- tion of the community of states. This recognition has led to the emergence of a community expectation: that those who seek the validation of their empowerment patently govern with the consent of the governed. Democracy, thus, is on the way to becoming a global entitlement, one that increasingly will be promoted and protected by collective international processes.[1]
Dementsprechend genießt die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eine Sonderstellung in der Agenda westlicher Staaten und unzähliger internationaler Organisationen. Selbst die Vereinten Nationen haben ihre ursprüngliche Neutralität in dieser Frage schon lange aufgegeben:
the UN as an institution has done more to support and strengthen democracy around the world than any other global organization — from fostering good governance to monitoring elections, from supporting civil society to strengthening democratic institutions and accountability, from ensuring self-determination in decolonized countries to assisting the drafting of new constitutions in nations post-conflict.
This brings home the fact that democracy is one of the universal and indivisible core values and principles of the United Nations. It is based on the freely expressed will of people and closely linked to the rule of law and exercise of human rights and fundamental freedoms.
Die Phase der 1990er Jahre hat sich auch in den Theorien der Internationalen Beziehungen bemerkbar gemacht. Die Realisten (beziehungsweise Neorealisten oder auch „demokratische Realisten“ nach Charles Krauthammer; auf die unterschiedlichen Spielarten soll hier nicht näher eingegangen werden) gerieten ins Hintertreffen: In Zeiten des Aufbruchs und verstärkter regionaler bis auch universaler Integration und Kooperation gab es nur wenig Platz für die ewig mahnenden Spielverderber, denen zufolge die Staatenwelt am Ende des Tages immer noch im Hobbesianischen Diktum homo homini lupus gefangen blieb.
Das große Ausnüchtern
Mittlerweile ist die allgemeine Euphorie jedoch wieder merklich abgekühlt, was sich insbesondere anhand von zwei Ereignissen gezeigt hat: Zum einen die humanitäre Intervention gegen Serbien aufgrund des Kosovo-Konflikts 1999, die – aufgrund des angedrohten russischen Vetos – ohne Resolution des Sicherheitsrats und somit ohne allgemein akzeptierte Rechtsgrundlage erfolgte und die Anschläge vom 11. September 2001. Erstere verdeutlichte, dass die Zeiten geopolitischer Block- und Allianzenbildung nicht vorüber ist. Zweitere zeigten neue, nicht-staatliche Gefahren auf und markierten den Anfangspunkt des Narrativs vom „war on terror.“ Damit ist der islamistisch-motivierte Terrorismus nach einer kurzen vermeintlich ruhigen Übergangsphase endgültig an die Stelle des sowjetischen Bären getreten. Ein Bild, das im Übrigen spätestens durch die russische Annexion der Krim, die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine und das Engagement in Syrien wiederbelebt wurde. Hinzugetreten sind China und, im Nahen und Mittleren Osten, der Iran. Der „unipolare Moment“, in dem die USA unangefochten als Hegemon dastanden, ist entweder wieder vorbei oder bedeutet zumindest nicht, dass es keine regionalen Mächte gibt, die einem einseitigen Vorgehen der USA Grenzen setzen können. Fareed Zakaria spricht dementsprechend bereits von der „Post-American World.“
Die Rückkehr der Realisten?
Angesichts dieser Entwicklungen sind auch die Realisten zurück. Ihnen zufolge zeugen sowohl die Ukraine als auch Syrien davon, dass Staaten nach wie vor in erster Linie aus Eigeninteresse handeln und danach streben, ihre Einflusssphäre entweder zu erweitern oder jedenfalls abzusichern. Für den Realisten gelten Menschenrechte, Multilateralismus oder die Förderung von Demokratie als bloße Fassade, um strategischen Interessen ein freundlicheres Antlitz zu verleihen. Allenfalls (etwa laut Krauthammer) kann ein „regime change“ gefolgt vom Aufbau eines demokratischen Staatswesens der nationalen Sicherheit dienen, wenn von einer demokratischen Regierung weniger Bedrohung ausgeht als von einem irrationalen und feindseligen Despoten. Aber selbst aus dieser Perspektive geht es eben nicht um Gerechtigkeit als solche, sondern als bloßes Mittel zum Zweck.
Dementsprechend hart gehen sie mit den USA und auch der EU ins Gericht. Der Westen habe die neuen Bedrohungen unterschätzt und sei naiv vom Ende der unseligen Zeiten des Realismus und seiner Implikationen für das Verhalten von Staaten und Regierungen ausgegangen. Dementsprechend habe man verkannt, dass etwa Putin seine geopolitischen Interessen in der Ukraine und Syrien nicht leichtfertig aufgeben werde. Im Gegenteil, Russland ist an diesen beiden Ländern mehr gelegen als den USA, während es der EU an militärischer Schlagkraft fehlt. Auch in den Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei in der Flüchtlingskrise wurde aus dieser Sicht aneinander vorbeigeredet. Während die EU davon ausging, in Erdogan einen verlässlichen Partner bei der Lösung eines gemeinsames Problems zu haben, hatte dieser eine wunderbar aufbereitete Situation für die Durchsetzung eigener Anliegen vorgefunden.
Wie so oft, wenn es um (internationale) Politik geht, konkurrieren unterschiedliche Perspektiven auf ein- und dasselbe Problem miteinander. Auch der Realismus vermag es nicht, sämtliche globale Phänomene, Ereignisse und Entwicklungen ausreichend zu erfassen. Dennoch besteht bisweilen der Eindruck, im Westen den Realisten in der jüngeren Vergangenheit nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Die gegenwärtigen Entwicklungen zeigen jedenfalls, dass er sich auf unabsehbare Zeit nicht in den Schaukasten antiquierter Theorien verbannen lassen wird.
Fußnote:
[1] Thomas M Franck, ‘The Emerging Right to Democratic Governance’ (1992) 86/1 The American Journal of International Law 46