Ideologie hegt Verdacht. Im Zeitalter der scheinbaren bis tatsächlichen Empirie sollte es eigentlich nur wenig Platz für kompromisslose, unreflektierte und unhinterfragbare Weltanschauungen geben. Selbst die letzte große Ideologie, die Liebe, sieht sich zunehmend bedroht. Der letzte Mensch freut sich schon.
Das elende 20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert war das Zeitalter der großen Ideologien. Sozialismus und (Real-)Kommunismus vs. Kapitalismus und Liberalismus, dazwischen unzählige Grauschattierungen. Weltpolitik war zumindest scheinbar einfach. ließ sich doch alles durch das Prisma der großen ideologischen Konfrontation zwischen Ost und West deuten.
Mit dem Ende des Kalten Krieges sind die großen Ideen zu weiten Teilen verschwunden. An ihre Stelle sind nüchterne Konzepte getreten, statt großen Visionen gelten heute Überprüfbarkeit und Objektivität als Maß aller Dinge. Wer für eine Idee zu sehr brennt, nicht genug zweifelt, macht sich per se verdächtig.
„Der Glaube an die Macht der Vernunft, der Toleranz und der Aufklärung wurde in Auschwitz verbrannt“ hat Doron Rabinovici bei seiner Rede in Alpbach gesagt. Vielleicht schon wurde dieser Glaube schon früher dem Feuer preisgegeben, auf dem Schlachtfeld von Verdun und der Ostfront beziehungsweise dem Ersten Weltkrieg in seiner Gesamtheit. Der Anspruch des Westens, den Rest der Welt zu „zivilisieren“, hatte jedenfalls bereits seit damals etwas höchst Fragwürdiges an sich.
Ideologien sterben lange
Dennoch hat sich der Tod der alten Götzen lange hingezogen. Die sozialistische Utopie hat erst ab den 1970ern endgültig ihre Strahlkraft verloren um von den Menschenrechten ersetzt zu werden. Kapitalismus und Liberalismus haben jedenfalls im Kontrast zum gern bemühten dunklen kommunistischen Totalitarismusbären, der bedrohlich durch die Tundra stapft, um uns eines Tages mit Marx‘ Kapital in der einen Hand und dem Knüppel in der anderen zu unterjochen, schön geglänzt. In Abwesenheit des Anderen verlieren sie täglich an Attraktivität, der Islamismus reicht als neuer Gegenspieler bislang nicht aus.
Die große Ent-Ideologisierung
So haben wir uns vom missionarischen Eifer der noblen Gedanken befreit, die von Gorbatschow gegen Ende des Kalten Krieges geforderte „Ent-Ideologisierung“ sollte wahr werden. Für Utopien ist kein Platz mehr, jedes Konzept muss erst einer gründlichen Überprüfung standhalten. Zu groß die Sorge davor, dass der Himmel auf Erden zur Hölle wird, Utopia sich also als Dystopie entpuppt.
Früher oder später hat sich noch jedes Konzept und jeder neue politische oder philosophische Star abgenützt. Richtig viel und Neues sagen sie ohnehin nicht: In der Philosophie und damit wohl auch in der Politik ist schon lange alles gesagt. Nur das „warum das alles“, die letzte und einzige Frage (siehe Camus) harrt nach wie vor einer Antwort.
Die letzte Ideologie: Das L-Wort
Was bleibt, ist das große L-Wort, das man sich angesichts seiner inflationären Verwendung schon gar nicht mehr hinschreiben oder aussprechen traut. In einer Welt der Skepsis bleibt die Liebe der letzte große kollektive Glaube.
Allerdings wäre es nicht die Moderne, gerne auch die Postmoderne, wenn dieser Glaube keine Risse zeigen würde. Die Kluft zwischen Darstellung und Realität, zwischen Fantasie und Alltag, zwischen der anfänglichen Euphorie und nüchternem Beziehungsalltag mitsamt „Auseinaderleben“ und den Dichotomien Trägheit/Stabilität vs. Unruhe/Selbstfindung/Selbstverwirklichung/Selbstwerdung/vita activa.
Ein ganzes mediales Konglomerat sucht mit der mittlerweile leidlich bekannten „Generation beziehungsunfähig“-Trommel ihre Clicks. Weil es Besseres gibt. Man etwas verpassen könnte. Alles noch immer nicht genug ist, nichts genug sein kann. Irgendeinen Glauben scheint der Mensch dann doch zu brauchen. So ein Leben ohne Religion ist schon ziemlich anstrengend, könnte der traurige Nietzsche gesagt haben.
Der Glaube ist spätestens gebröckelt, als der Wohlfahrtsstaat und die Emanzipation das Leben alleine erleichtert und, in vielen Fällen, überhaupt erst ermöglicht haben. Wenn noch so starke äußere Zwänge nicht mehr ausreichen, um Menschen im Korsett einer für beide oder zumindest einen Teil unseligen Beziehung weiter festzuschnüren. Die Vorgängergeneration hat mit ihren Trennungen den Grundstein gelegt, die Scheidungskinder vollenden das Werk gemeinsam mit jenen Kindern, die instinktiv gespürt haben, dass ihre Eltern einander insgeheim ablehnen, eventuell gar hassen. Die letzten wohlbehüteten Frohnaturen haben die Deutungshoheit schon lange abgegeben und sind und sind von den Houellebecqs dieser Welt ähnlich bedroht wie kleine Inselstaaten vom Klimawandel.
Wer Houellebecq sagt, kann auch gut Nietzsche sagen und seinen letzten Menschen bemühen, der im Zuge seiner pursuit of happiness die Risiken und Tiefen des menschlichen Daseins zu umschiffen versucht. Wie es in also sprach Zarathustra heißt:
»Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern« – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten. »Wir haben das Glück erfunden« – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“
Der vorletzte Mensch
Vielleicht befinden wir uns im Zeitalter des vorletzten Menschen, der noch nicht vollends abgestumpft ist, noch nicht blinzelt. Wir haben das Glück beileibe nach wie vor nicht gefunden; aber wir suchen methodisch-wissenschaftlich danach (man denke nur an den Hype um Bücher zur Glücksforschung).
Und die Menschen in weißen Kitteln entzaubern auch die Liebe. Sie sprechen in Kategorien von Angebot und Nachfrage. Sie bemessen, wie schnell der durch körpereigene Drogen induzierte Verliebtheits-Spuk wieder vergeht. Dass Verliebtheitsgefühle, sofern man sie überhaupt entwickelt, gar nicht personenbezogen sein müssen (man spricht von „misattribution of arousal„). Zeigen uns, wo welche Synapsen feuern und erklären uns sogar, dass Kinder einen eigentlich unglücklich machen.
Mit solchen Erkenntnissen kommt der letzte Mensch in Riesenschritten. Er bringt das Glück und tötet die Liebe, die letzte verbliebene Ideologie. Denn Liebe bedeutet auch Gefahren in Verbindung mit Leid, und die schmecken dem letzten Menschen nicht.
Was kommt danach? Massenhafte Algorithmus-Liebe wie im Film „Her“? Die Polyamorie, die es nicht einmal ansatzweise so oft gibt, wie all die halbreißerischen Berichte darüber es bisweilen suggerieren? Eine neue Welle der Askese wie man sie im 19. Jahrhundert etwa von John Harvey Kellogg (ja, der von den Cornflakes: Seltsame Geschichte, unbedingt lesen!) propagiert wurde? Eine noch weitergehende Ausnüchterung, gepaart mit Zweckbeziehungen, bei denen die Fronten von Anfang an geklärt sind und deren Kinder „aus dem Reagenzglas“? stammen Oder doch eine Wiederentdeckung der romantischen Liebe, wie wir sie aus Goethes Werther kennen?
Man weiß es nicht; man weiß schließlich, und jetzt sind wir beim modernen Leiden an Ungewissheit und steter Skepsis, dass die Vermutung von heute der Witz von morgen sein kann. Einmal mehr gilt, dass Prophezeiungen mehr über die Zeit aussagen, in der sie getroffen wird, als über die, die erst kommt. Was wir indes wissen, ist, dass die Sache mit der Liebe mittlerweile so nicht mehr gibt und wohl auch nie gegeben hat.