Rebell oder Grund

Aufbegehren oder abfinden? Rebell oder Grund [=Ausrede]? Niemand revoltiert, schon gar nicht am Sonntag. Weil zwar viele opponieren, aber umgekehrt kaum jemand für etwas eintritt, jedenfalls nichts Konkretes, nichts Umsetzbares. Wie denn auch, wenn alles sich bezweifeln und relativieren lässt?

Was die Welt am Leben hält: Der starke Arm des willfährigen Arbeiters auf der einen Seite und Übermenschen der Marke Nietzsche oder Ayn Rand (Vorsicht, ist in Europa entweder unbekannt oder verpönt) auf der anderen. Dazwischen die Non-Konformisten; die nicht mehr tun als alles infrage stellen und damit zumindest demaskieren: Oft genug ist der Kaiser nackt, er versteckt sich nur hinter Fußnoten, hinter Potemkinschen Zauberformeln, von „Empirie“ über „Studie“ oder einfach nur hinter „Wissenschaft.“

Keine Revolution, nirgends. Nur niemandes Kopf stoßen. Wer weiß, vielleicht ist jemand wichtig, vielleicht jemand einmal wichtig, vielleicht kennt dieser und jene diesen und jene. Hinauslehnen, ja, aber beide Beine bleiben am Boden des Grundkonsenses. Nur nicht über die dünne und nicht immer klar ersichtliche Linie steigen. Ein wenig ziehen, vielleicht zerren, aber ja nichts sprengen. Nur nichts verbauen. Sprengen, das sind die anderen; wer nichts zu verlieren hat vielleicht. Aber irgendwas zu verlieren gibt es ja immer. Wer sich zu weit hinauswagt, riskiert, für immer ignoriert zu werden.

Wo will man gestanden haben, wenn man am Ende des Tages im Sterbebett liegt? Was heute richtig ist, kann schon morgen falsch sein. Wenn ein Hans Kelsen davon schreibt, dass „die Anschauungen darüber, was sittlich gut und böse, was sittlich rechtfertigbar und nicht rechtfertigbar ist – so wie das Recht –, einem steten Wandel unterworfen sind“(Reine Rechtslehre, 2. Auflage 1960, S. 70f.), ignoriert er zwar den zeitlosen Charakter zentraler Leitsätze wie des Verbots der Tötung oder der goldenen Regel: Aber für die simple Erkenntnis der Wandelbarkeit und Relativität von Moral reicht ein Blick in ältere Fassungen des Strafgesetzbuchs oder auch einfach über die Landesgrenzen hinaus. Nicht einmal innerhalb Europas gibt es einen weitergehenden Grundkonsens in derartigen Fragen (weswegen der Europäische Gerichtshof den Staaten hier einen weiten Ermessensspielraum, bekannt als „margin of appreciation“, zugesteht). Fest steht lediglich, dass Moral sich über weite Strecken dem demokratischen Willensbildungsprozess entzieht. Im Gegenteil, Moral wird getötet, wenn sie zu einer reinen Frage der Mehrheitsverhältnisse verkommt.

Wer heute Fleisch isst, gilt morgen oder übermorgen vielleicht als Mörder. Blasphemie-Paragraphen als Absurdität, eventuell aber auch als viel zu permissiv. Die Reaktion auf die Flüchtlingskrise zeigt einmal mehr, dass große politische Einheiten entgegen philosophischer Größen wie Vattel oder Wolff keine moralischen Personen sein können.

Wie man es macht, man könnte es falsch machen. Also doch verharren im status quo. Mit dem Wissen wächst der Zweifel (Goethe angeblich; wenn das kein Gütesiegel ist). Wer zweifelt, glaubt nicht, jedenfalls nicht unerschütterlich. Wer nicht glaubt, kämpft nicht. Wer zweifelt, revoltiert nicht. Alles wie gehabt.

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