Moral ist relativ.
gibt man zu, daß zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Völkern und selbst bei demselben Volke innerhalb verschiedener Stände, Klassen und Professionen sehr verschiedene und einander widersprechende Moralsysteme gelten, daß unter verschiedenen Umständen Verschiedenes für gut und böse, gerecht und ungerecht gehalten werden kann und nichts unter allen möglichen Umständen für gut oder böse, gerecht oder ungerecht gehalten werden muB, daß es nur relative Moral-Werte gibt: dann kann die Behauptung, soziale Normen müssen einen moralischen Inhalt haben, müssen gerecht sein, um als Recht angesehen zu werden, nur bedeuten, daß diese Normen etwas enthalten müssen, das allen möglichen Moral als Gerechtigkeits-Systemen gemeinsam ist. …
selbst wenn sich ein allen bisher geltenden Moralsystemen gemeinsames Element feststellen ließe, ware kein zureichender Grund vorhanden, eine Zwangsordnung, die dieses Element nicht enthält, die ein Verhalten gebietet, das bisher noch in keiner Gemeinschaft für gut oder gerecht, und ein Verhalten verbietet, das bisher noch in keiner Gemeinschaft für böse oder ungerecht gehalten wurde, als nicht „moralisch“ oder „gerecht“ und daher nicht als Recht anzusehen. Denn wenn man keinen a priori gegebenen, und das heißt absoluten Moralwert voraussetzt, hat man keine Möglichkeit, zu bestimmen, was unter allen Umständen für gut und böse, gerecht und ungerecht gehalten werden muB. Und dann kann man nicht leugnen, daß auch das, was die in Rede stehende Zwangsordnung gebietet, für gut oder gerecht, und das, was sie verbietet, für böse oder ungerecht gehalten werden kann; und daß also auch sie — relativ moralisch oder gerecht ist.
Das, was allen möglichen Moralsystemen notwendigerweise gemeinsam ist, ist nichts anderes, als daB sie soziale Normen, das heißt Normen sind, die ein bestimmtes Verhalten von Menschen — unmittelbar oder mittelbar gegenüber anderen Menschen statuieren, das heißt als gesollt setzen. ‚Was allen möglichen Moralsystemen gemeinsam ist, ist ihre Form, das Sollen, der Normcharakter. Moralisch gut ist, was der ein bestimmtes menschliches Verhalten statuierenden Sozialnorm entspricht; moralisch böse, was einer solchen Norm widerspricht. Der relative moralische Wert wird durch die ein bestimmtes menschliches Verhalten als gesollt setzende Sozialnorm konstituiert. Norm und Wert sind korrelatiVe Begriffe. …Wenn eine Theorie des positiven Rechts die Forderung erhebt, Recht und Moral im allgemeinen und Recht und Gerechtigkeit im besonderen von einander zu unterscheiden, nicht miteinander zu vermengen, so richtet sie sich gegen die traditionelle, von den meisten Juristen für selbstverständlich gehaltene Anschauung, die voraussetzt, daß es nur eine, allein gültige, das heißt aber: absolute Moral und sohin eine absolute Gerechtigkeit gebe. Die Forderung einer Trennung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit bedeutet, daß die Geltung einer positiven Rechtsordnung von der Geltung dieser einen, allein gültigen, absoluten Moral „der“ Moral, der Moral par excellence, unabhängig ist. Setzt man nur relative Moralwerte voraus, dann kann, die Forderung, das Recht solle moralisch, und das heißt: gerecht sein, nur bedeuten, daß die Gestaltung des positiven Rechts einem bestimmten unter den vielen möglichen Moralsystemen entsprechen soll; womit jedoch nicht die Möglichkeit der Forderung ausgeschlossen wird, daß die Gestaltung des positiven Rechts einem anderen Moralsystem entsprechen soll und diesem möglicherweise tatsächlich entspricht, wahrend es einem von diesem verschiedenen Moralsystem widerspricht. …
Eine relativistische Wertlehre bedeutet nicht — wie vielfach mißverstanden wird —, daß es keine Werte und insbesondere keine Gerechtigkeit gebe, sondern daß es keine absoluten, daß es nur relative Werte, keine absolute, sondern nur eine relative Gerechtigkeit gibt, daß die Werte, die wir mit unseren normsetzenden Akten konstituieren und unseren Werturteilen zugrundelegen, nicht mit dem Anspruch auftreten können, die Möglichkeit entgegengesetzter Werte auszuschließen.
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (zweite Auflage 1960, Nachdruck der Österreichischen Staatsdruckerei von 1992) 66ff.
Danke für das ausgiebige und uninterpretierte Zitat.
Frage zu Kelsen: Wie sieht er das „reine Recht“ im Verhältnis zum „praktischen“ Recht?
Auf die Frage komme ich nicht zuletzt aufgrund von Kants Perspektiven zur „reinen“ und „praktischen“ Vernunft.
Beide Autoren, Kant und Kelsen, geben Auskunft auf moderne Weise mit guten Gründen – und heute gelesen wiederum mit allerlei Zweifeln.
Daher mag ich gerne auf Platons Idee von Gerechtigkeit zurück kommen, die auf einer harmonisierenden Idee der Tugenden von Weisheit, Besonnenheit und Tapferkeit ruht.
Um Antwort wird gebeten.
Gute Wünsche und herzliche Grüße
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