9/11 und das Völkerrecht

Die Anschläge vom 11. September haben die Weltpolitik verändert, der daraufhin postulierte „War on Terror“ bestimmt bis heute das Geschehen. Auch völkerrechtlich war 9/11 ein entscheidender Moment.

Die ganz große Frage betrifft das Selbestverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta. Bis dato wurde dieses nämlich grundsätzlich an Angriffe von Staaten geknüpft, bei Al-Kaida handelt es sich jedoch um eine terroristische Organisation, die sich vor allem in Afghanistan festgesetzt hatte. Afghanistan konnten die Angriffe jedoch nicht (im Sinne von Artikel 8 der ILC-Artikel zur Staatenverantwortlichkeit) zugerechnet werden, weil keine entsprechende Kontrolle von Seiten des Staates beziehungsweise, genauer, der dortigen Taliban-Regierung vorlag.

Dennoch beriefen die USA und Großbritannien sowie die NATO sich auf das Selbstverteidigungsrecht: Es war der erste und bis dato letzte Anwendungsfall für die NATO-Beistandsklausel, derzufolge ein Angriff auf ein NATO-Mitglied wie ein Angriff auf sämtliche NATO-Mitglieder gewertet wird, die bei der Abwehr auch hinreichend zusammenarbeiten sollen.

Auch der Sicherheitsrat erließ in diesem Zusammenhang zwei Resolutionen (1368 und 1373), die in ihrer Präambel jeweils auf das Selbstverteidigungsrecht verwiesen. Da die Angriffe sich nicht nicht nur gegen Al-Kaida, sondern auch die Taliban richteten (erklärtes Ziel war ein Regimewechsel, also die Errichtung einer neuen Regierung, zumal die Taliban international isoliert waren, nur 3 Staaten hatten sie anerkannt), wurde die „safe harbour“-Doktrin geprägt. Zwar konnte Al-Kaida den Taliban nicht zugerechnet werden, doch bestand eine ausreichende Nahebeziehung („nexus“), um gegen sie vorzugehen. Die Staatengemeinschaft hat diese Begründungen weitgehend akzeptiert. Hier liegt gewissermaßen der Präzedenzfall für spätere Selbstverteidigungshandlungen gegen nicht-staatliche Akteure, allen voran von Seiten Israels gegen die Hamas (2008/09 und im Sommer 2014) und die Hisbollah im Südlibanon (2006) und jüngst das Vorgehen gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien. Diese Fälle sind insofern von den Angriffen in Afghanistan zu unterscheiden, als hier nicht auch gegen die jeweilige Regierung, sondern nur gegen nicht-staatliche Akteure vorgegangen wurde, die obendrein quasi-staatlichen Charakter hatten ohne jedoch als solche akzeptiert zu werden (sogenannte quasi-de-facto-Regime): Die Hamas stellt gewissermaßen die Regierung im Gaza-Streifen, der Südlibanon steht unter Kontrolle der Hisbollah, auch der „Islamische Staat“ tritt wie ein Staat auf.

Zu erwähnen ist an dieser Stelle jedoch die Rechtsmeinung des Internationalen Gerichtshofs. Im Mauerbau-Gutachten von 2004 ging es um die Frage, ob Israel die Errichtung eines Schutzwalls zu den Palästinensergebieten mit dem Recht auf Selbstverteidigung rechtfertigen könnte. hat er festgehalten, dass Artikel 51 das inhärente Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs durch einen Staat anerkennt. Israel habe jedoch nicht argumentiert, einem solchen ausgesetzt zu sein und könne sich daher nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen. Für diese Feststellung gab es viel Kritik, da sie die veränderte Faktenlage verkenne und Artikel 51 obendrein nirgends von der Notwendigkeit eines staatlichen Angriffs, sondern lediglich von einem „bewaffneten Angriff“ spricht.

Außerdem unterschied der IGH die Situation von den Anschlägen des 11. September, da Israel die Palästinensergebiete kontrolliere und daher kein Angriff „von außen“ stattfinde.

Das zweite Beispiel ist der Fall Demokratische Republik Kongo gegen Uganda aus dem Jahr 2005. Hier wies der IGH das Selbstverteidigungsrechts-Argument Ugandas zurück, da es keine hinreichende Nahebeziehung zwischen den Angriffen einer vom Kongo aus operierenden nicht-staatlichen Gruppe beweisen konnte. Der Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht grundsätzlich auch gegen Angriffe von nicht-staatlichen Gruppen zusteht, ist er damit aus dem Weg gegangen (wofür er ebenfalls kritisiert wurde).

Heute scheint die Sache ungeachtet der IGH-Rechtsprechung über weite Strecken geklärt: Das Selbstverteidigungsrecht steht grundsätzlich auch gegen nicht-staatliche Akteure zu, wenn auch nur unter gewissen Bedingungen. Um es klassisch-juristisch zu sagen: „Es kommt drauf an“ beziehungsweise braucht man hier stets eine Einzelfallprüfung.

Siehe dazu auch meinen Vlog-Beitrag zu 9/11 aus Sicht des Völkerrechts

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