Reinhold Mitterlehner hat ein Buch geschrieben. Man könnte durchaus zynisch werden. Grund genug, über Macht zu sprechen.
[Eines gleich vorweg: Wer einen Text zu den Abgründen österreichischer Innenpolitik sucht, wird hier enttäuscht. Wer aber meta mag, wird meta bekommen.]
Macht – Menschen etwas tun zu lassen, das sie eigentlich nicht tun wollen. Laut Max Weber „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.“ Oder, wie es in der Diplomatie heißt, the art of telling people to go to hell in such a way that they ask for directions.
Demokratische Zähmung
Demokratie ist der Versuch, Macht zu kanalisieren. Die Gewaltentrennung als Instrument der Zähmung (obwohl sie ihren Ursprung in monarchistischen Staatswesen hat – der Monarch als Vollzieher der Gesetze) wird mit dem Gedanken gepaart, dass das Volk sich selbst regiert.
Nur: Wahlen neigen zum Exzess, Demokratien können erodieren. Gewählte Herrscher überstrapazieren bisweilen ihre Legitimität, um an den demokratischen Säulen – Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit – zu knabbern. Auch wenn zum Gespenst des Populismus eigentlich schon alles gesagt wurde, scheinen die gesellschaftlichen Eliten des politisch-gesellschaftlichen Westens nicht mehr zu bieten als Warnungen ohne Rezept. Politische vita passiva, das untätige Leben.
Während die einen diskutieren, machen die anderen. Tat schlägt Analyse. Außenstehende mögen sich echauffieren, aber mehr als polternde Begleitmusik spielt es zumeist nicht. Der Kommentator – ob auf Twitter, im TV oder auch in gedruckter Form – als digitales Muppet.
Macht als Selbstzweck
Wer Macht will, muss mit ihr arbeiten. Ihre Mechanismen verstehen, Grenzen überschreiten, bewusst und oft auch unbewusst. Mit Kalkül, alles zu seiner Zeit. Wer Politik sagt, muss auch Macchiavelli sagen. Vita activa.
Die Werkzeugkiste der Macht hat viel zu bieten, von ad hominem-Argumenten über die konsequente Unterminierung von Institutionen bis hin zur Emotionalisierung, bisweilen auch mit einem gezielten Leak. Die Masse lässt sich gern verführen, spätestens gegen gar unliebsame politischen Gegner gerät auch bei eigentlich besonnen Geistern die Zweck-Mittel-Relation oft aus den Fugen. Wenig Platz fürs Prinzip. Wer mahnt, verliert. Anstand ist im Olymp der Macht etwas für die Zeit nach der politischen Karriere, für den elder statesman aus dem gesicherten Politexil.
Ent-Ideologisierung
Damit müsste die Ideologie im Vordergrund stehen. Der höhere Zweck, der Mittel heiligt. Allein, die Klimax der Ideologien liegt lange zurück. Die bolschewistische Weltrevolution steht auf keiner politischen Speisekarte, jedenfalls nicht in den bekannten Parteienrestaurants. Die daraus entstehende utopische Lücke wurde – hier darf man Samuel Moyn zustimmen – einerseits vom Kampf für die Menschenrechte gefüllt, andererseits vom Glauben an die Verwissenschaftlichung des politischen Diskurses.
Ein Glaube, der in den Ursprüngen des modernen Staats wurzelt. Die Statistik war ein Mittel, dem body politic ein Zahlenkleid zu nähen. Der Staat als menschenähnlicher Organismus, den wir allen voran bei Thomas Hobbes oder John Graunt, dem Großvater des Gedankens der Erfassung der Bevölkerung, finden: Wie viele Menschen sterben und wieso, wie lässt sich ihr Leben verlängern? Wie kann der Staat das Steueraufkommen erhöhen? Die Gesundheit und, damit einhergehend, die Produktivität seiner Bewohner?
Fragen, die sich bis heute gehalten haben, von der ökonomischen Analyse des Rechts – also der Frage wirtschaftlicher Auswirkungen gesetzlicher oder verwaltungstechnischer Maßnahmen – bis hin zur Volkswirtschaft. Das Humankapital hat, eine Zeit lang zumindest, den Gedanken der Nation verdrängt.
Kein gutes Leben
Damit tritt der Experte auf den Plan, der Technokrat. Zweifelsohne, die großen und unüberbrückbaren Gräben, von Religion bis zum Umgang mit einer sich verändernden Bevölkerungsstruktur, haben einen offensichtlich ideologischen Kern. Nur: Umgeben von Statistiken bleibt kein Platz für die Metaebene. Das gute Leben weicht den Parametern. Zahlen sind kalt, das Einzelschicksal hat hier ebensowenig Platz wie Gedanken zum großen Ganzen.
Womit wir bei unserer Eingangsfrage wären. Macht saugt auf. Das politische Spiel lässt Ideologie zum Impulsgeber verkommen. Weil’s immer schon so war. Die großen alten Denker als Folklore und Legitimationsgrundlage, als diskursives Ass im Ärmel. Wer muss antworten, wenn er zitieren und damit auf ein umfassendes Gedankengebäude verweisen kann?
Was von der Ideologie bleibt
Eine genuine Ideologie, ob als Überbau oder als Fundament, fehlt also. Was bleibt, sind ideologische Überreste, die sich mit neuen medialen Stilmitteln und alten rhetorischen Kniffen vermischen. Für den Machtpolitiker reicht es, sich auf isolierte Kernanliegen zu reduzieren. Nur so ist es möglich, dass Männer mit einem Lebenswandel wie Donald Trump oder Matteo Salvini bei hochkonservativen Kräften punkten (um nur zwei kleine Beispiele aus der Welt der ideologischen Widersprüche zu zitieren).
Die Personalisierung hat die Ideologisierung schon lange verdrängt. Weder charismatische Spitzen diverser Bewegungen noch strong men brauchen ein Gedankenpamphlet. Instagram steht über der höchstpersönlichen Politbibel. Auf dem Weg zur Macht wird das große Ziel schnell zum Klotz am Bein.