Wenn einer der größten Politikskandale der letzten Jahre eine veritable Regierungskrise auslöst, darf man sich schon ein paar Gedanken machen. Sechs sind es geworden.
1.) Die große Entfremdung: Mir scheint, dass viele unterschätzen, wie niedrig das allgemeine Ansehen von Politikern und Parteien bei weiten Bevölkerungsteilen ist. Nicht nur das der FPÖ. Korruptionsvorwürfe schaden Parteien daher auch nicht so stark wie man im ersten Moment meinen möchte. Weil bei vielen ohnedies eine „die [gemeint sind alle] Politiker machen eh‘ alle was sie wollen“-Grundstimmung herrscht. Dazu gibt es auch Zahlen: Laut der Europäischen Wertestudie aus dem Jahr 2018 vertrauen den politischen Parteien lediglich 27% der Befragten – langfristig zwar eine Steigerung (2008 lag der Wert bei 14%!), aber immer noch weit abgeschlagen hinter der Polizei (87%) oder dem Bundesheer (67%).
2.) Schon spannend, wie schnell Kickl von Message Control in den Angriffsmodus übergegangen ist und Kurz direkt ins rhetorische Visier genommen hat. Das ist eben sein natürliches Habitat, da dürfte sich wohl einiges aufgestaut haben.
3.) Wenn die Krone ihren derzeitigen Anti-FPÖ-Kurs beibehält, wird es auch für sie ein Lackmustest. Wird sie am Ende gar überschätzt? Falls die FPÖ trotz Gegenwinds ein respektables Ergebnis einführt, würde der Mythos vom medialen Machtfaktor Kronenzeitung jedenfalls stark leiden. Alleine das wäre für die Krone wohl Grund genug, bald wieder versöhnlicher zu werden.
4.) Zu den langfristigen Auswirkungen: Neben dem Vertrauensverlust und dem gezeigten Sittenbild gleiten wir seit einiger Zeit sukzessive in Richtung Schlammschlacht-Demokratie ab. Was weniger das Video selbst (der veröffentlichte Inhalt war bis auf eine Ausnahme ja von breiterem Interesse) betrifft als den Umgang damit. Wir nähern uns den USA und den dortigen Wahlkämpfen an. Man erinnere sich an das Niveau des letzten Nationalrats-Wahlkampfs. Dass jetzt über das Ibiza Video hinaus zu neueren Entwicklungen in Straches Privatleben öffentlich berichtet wird befriedigt zwar das menschliche Grundbedürfnis nach Klatsch, ist aber bedenklich. Wer weiß, was sonst noch so kommt. Denke aber nicht, dass sich diese Entwicklung langfristig aufhalten lässt.
5.) Richtig kompliziert wird es, sobald die deep fake-Technologie weiter fortgeschritten ist und wir von außen kaum sagen können, ob ein Video echt ist. Allzu lange dürfte das nicht mehr dauern. Da wird die oft jetzt schon komplexe Unterscheidung zwischen Wahrheit Fakten und Lüge nochmal eine andere Dimension bekommen, Strache hätte einfach die Echtheit bestreiten können und man wäre auf das Vertrauen in Experten angewiesen, das viele Menschen schlichtweg nicht haben (vielleicht sind wir jetzt aber auch nur hysterisch und die Sache wird nicht so schlimm wie befürchtet).
6.) Straches „b’soffene G’schicht“-Rhetorik hat ja Anlass für so einige lustige Memes gegeben. Sie steht eben sinnbildlich für die Sozialisierung von Männern. Ein guter Anlass, das zu hinterfragen. Mit 40+ bzw fast 50 geht „boys will be boys“ nicht mehr, eigentlich sollte es nie gehen. Vor allem, wenn man ein verantwortungsvolles Amt bekleidet. Im Übrigen hat die kluge Judith Kohlenberger auf Twitter alles dazu gesagt.