Naives Völkerrecht

Heute war die letzte Einheit in meinem Kurs zum Kriegsrecht. Anlass genug für einige Gedanken zum Verbot von Krieg und den Regeln bewaffneter Konflikte.

Zum Abschluss hatten wir Oberst Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie zu Gast, der uns Einblicke in die Praxis gegeben hat (er war als Jagdkommando-Soldat u.a. in Bosnien und Herzegowina, Afghanistan, dem Tschad oder der Zentralafrikanischen Republik und hat dementsprechend mehr zu erzählen als Schreibtischtäter wie meine Wenigkeit). Vor einigen Wochen war außerdem Melissa Mujanayi vom Verteidigungsministerium bei uns, um über ihren Einsatz in Mali zu sprechen.

Wenn man Leuten aus der Praxis zuhört, spürt man immer, dass der Krieg auf keine Power Point-Folie passt. Da können wir uns noch so viele Dokus oder Ausschnitte aus Filmen wie „Eye in the Sky“ ansehen und Kommentare zu den Genfer Konventionen, Artikel oder Bücher lesen.

Dieses Semester hat es sich – aus offensichtlichen Gründen – besonders seltsam angefühlt, dieses Rechtsgebiet zu unterrichten. Es ist immer ein eigenwilliges Gefühl, im sicheren und warmen Hörsaal (bzw., in Zeiten der Pandemie, bisweilen im Arbeitszimmer) darüber zu sprechen, wann man wen töten und was angreifen darf, was ein Kriegsverbrechen darstellt oder welche Arten von Konflikten es gibt.

Aber die letzten Wochen waren nochmal anders: Ein Krieg vor der Haustür und auf unseren Smartphones oder Fernsehbildschirmen. Von klassischen Nachrichten bis hin zu Memes und TikTok-Videos. Wir haben darüber diskutiert, ob das Bauen oder Werfen von Molotow-Coktails eine „direkte Beteiligung an Kampfhandlungen“ darstellt oder bewaffnete Zivilisten als Levée en Masse gelten. Während es einige 100 Kilometer entfernt passiert, in „Echtzeit“. Surreal.

Das jüngere Europa hat das Privileg, den Krieg nur aus der Theorie zu kennen. Manche haben ihn mittelbar, über ihre Eltern, oder auch unmittelbar erfahren (und denken sich mitunter ihren Teil, wenn Politiker davon sprechen, dass in Europa seit 1945 Frieden gewesen sein soll – Jugoslawien anyone?!).

Und dennoch scheint sich im Moment eine Art Abstumpfung einzustellen. Das ist nur verständlich, sonst dreht man ja durch. Aber einigen – auch in der Politik – scheint noch immer nicht (oder nicht mehr) bewusst zu sein, was gerade passiert. Dass „Zeitenwende“ mehr ist als nur ein Wort. Dass die Welt, die es ohnehin nie so wirklich gab, nicht mehr so bald zurückkommt. Eine Welt, in der man z. B. gerne mal beide Augen vor Gräuel und Kriegen zumacht, weil man billige Rohstoffe braucht.

So einige meinen, so sei die Welt nunmal, so sei der Mensch. Wer auf völkerrechtliche Grundsätze wie das Gewaltverbot und die Regeln des Kriegsrechts verweist, gilt dann gerne mal als naiv.

Freilich, als Völkerrechtler muss man allein von Berufs wegen viel über dieses Wort nachdenken. In letzter Zeit aber doch mehr als sonst.

Nur: Ich glaube weniger denn je, dass das Völkerrecht und seine simplen Grundsätze eine naive Vorstellung sind. Im Gegenteil, die rechtliche Ächtung von Kriegen und die Regeln bewaffneter Konflikte sind die Reaktion auf Kriege. Nach dem Ersten Weltkrieg hat man den Antikriegspakt verabschiedet, nach dem Zweiten die UNO-Charter und die Genfer Konventionen, im Lichte der „Dekolonisierungskriege“ und des Vietnamkriegs ihre Zusatzprotokolle: All diese Verträge sollten Kriege verhindern oder zumindest abmildern. Weil man zeitlich „hautnah“ wusste, was es bedeutet, wenn Armeen und sonstige bewaffnete Gruppen gegeneinander kämpfen. Und man ist wohl selten weniger naiv als unmittelbar nach einem Krieg.

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