Österreich in Aufruhr: Werner Faymann ist als Kanzler und SPÖ-Parteichef zurückgetreten. Auch wenn das kaum einen politisch interessierten kaltlassen kann, muss man darin nichts Weltbewegendes sehen – alles eine Frage der Perspektive.
Eines sei unbestritten: Der Rücktritt des Regierungschefs und Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei ist grundsätzlich keine kleine Sache. Natürlich gibt es ein Erdbeben in den Medien, auf Twitter und auf Facebook – wo man dieses auf der politischen Richterskala verankert, hängt aber von der jeweiligen Betrachtungsweise ab. Also davon, ob man in Sachen Politik eher auf Akteure und Einzelpersonen oder auf das dahinterstehende System fokussiert.
Politik als Soap Opera
Der Schwerpunkt der medialen Berichterstattung und des politischen Interesses ist seit je her vornehmlich personenbezogen. So erfährt und diskutiert man allerorts mehr oder minder Belangloses, von der Haarpracht über den Kleidungsstil bis hin zu Charakterzügen, Stimmlage oder Ausbildungsgrad (hat er Werner Faymann jetzt maturiert oder nicht?) mitsamt allfälligen Fremdsprachenkenntnissen. Auf einer zweiten Ebene kommen dann Familienstand, freundschaftliche und parteiinterne Beziehungen oder mediale Kontakte. Genuin-inhaltliche Fragen, Positionen und Argumente fristen allenfalls ein Schattendasein.
Dieser Fokus auf den Menschen hinter dem politischen Amt als solchem und mitsamt seinen zwischenmenschlichen Kontakten ist nur allzu nachvollziehbar. Die Welt ist komplex, oft zu komplex, für Laien wie auch (selbsternannte) Experten. Viele Politiker verstehen oder kennen lediglich einen Bruchteil der Gesetze, die sie beschließen, wobei sie ohnehin nicht autonom abstimmen – das letzte Wort liegt bekanntlich bei der Parteiführung (Stichwort Klubzwang!). Abgesehen davon werden die großen Entscheidungen mittlerweile oftmals anderswo, „in Brüssel“ oder sonstigen Foren der Weltpolitik, getroffen. Logisch, dass sich auch bei der Bevölkerung schnell Überforderung breitmacht.
Daraus folgt einerseits ein Bedürfnis nach einfachen, klaren Botschaften und andererseits nach etwas Greifbarem, also vor allem personenbezogenen Informationen. Zugleich wollen und können Politiker verstärkt durch Charisma punkten (siehe dazu Henry Kissingers letztes Buch „World Order“). Kommen Hintergrundberichte und Analysen zu Personalrochaden, strategischen Überlegungen, „Netzwerken“, „Affären“ und dergleichen hinzu, wird obendrein unser Bedürfnis nach Tratsch befriedigt. Politik als real life-Soap Opera. Gestern durfte man rätseln, ob Faymann politisch überlebt, heute darf man sich fragen, wer ihm nachfolgt oder ob es vielleicht sogar Neuwahlen gibt (so wie wir das vor ein paar Jahren nach dem Abgang von Josef Pröll getan haben). Es ist was los, es tut sich was, neuen Gesprächsstoff hat das Land: Gut so, zumal die Zeit bis zur EM überbrückt werden will.
Die soziologische Brille
Es gibt zugleich auch eine andere, nüchterne Betrachtungsweise: Den soziologischen Blick, der Einzelpersonen in den Hintergrund rückt; Politik als Wechselspiel zwischen den Zwängen, die mit dem jeweiligen Amt einhergehen, und dem Gestaltungswillen des Menschen, der es bekleidet. Wobei der innen- und außenpolitische Druck ein sehr enges Korsett schnürt. So gibt es in Österreich viele bedeutsame Player abseits des Parlaments, von diversen Zeitungen über die Kammern bis hin zu staatsnahen Konzernen und Interessenverbänden. Ebenso stellen sich außerhalb des großen Österreichs nach wie vor dieselben großen Fragen, die Verhandlungen über TTIP laufen weiterhin, die Flüchtlingskrise bleibt ungelöst.
Durch die soziologische Brille betrachtet verliert der Rücktritt von Werner Faymann daher viel von seiner faktischen Bedeutung. Allfällige politische Folgen werden eher inkrementaler denn fundamentaler Natur sein. „Das System“, von dem so mancher von uns schon als pubertärerer Politikexperte schwadroniert hat, bleibt ja dasselbe. Vereinfacht gesagt: Man darf bezweifeln, ob sich Faymanns Nachfolger von seinem Vorgänger wesentlich – also über Detailfragen hinaus – unterscheiden wird. Weswegen die Sache zwar durchaus Gesprächsstoff bietet, aber eben auch nicht überschätzt werden sollte. Gutes Entertainment bietet sie aber in jedem Fall.