„Wir“ und die Gewalt: Aus den Augen, aus dem Sinn?

Die in hiesigen Breiten vorherrschende Haltung zur Gewalt hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Früher oftmals glorifiziert, wird sie heute verpönt oder verdrängt. Unter der Oberfläche brodelt es aber weiter. Das zeigt sich insbesondere am Umgang mit der Flüchtlingskrise und dem Grenzschutz.

Zuerst die guten Nachrichten: Auch wenn der mediale Eindruck anderes vermittelt, leben wir, wenn man Steven Pinker glauben darf, in einer historisch außerordentlich friedvollen Zeit. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Gewalt immer noch unter uns weilt. Viele wollen sie nur nicht sehen und noch weniger selbst anwenden.

Das zeigte sich etwa anhand der Empörung auf die Aussage von Außenminister Kurz, dass es an der Grenze zu „unschönen Szenen“ kommen könne, wenn einzelne versuchen sollten, gegen Bundesheer und Polizei vorzugehen. Die unangenehme Erkenntnis: Will man Menschen davon abhalten, in die EU beziehungsweise das Gebiet eines Mitgliedstaats zu gelangen, muss man Gewalt anwenden. Von Stacheldraht über Tränengas bis hin zu Wasserwerfern.

In Deutschland scheint die Scheu vor staatlicher Gewaltanwendung im Grenzbereich noch stärker ausgeprägt zu sein; die Zeit des Nationalsozialismus und der „Schießbefehl“ in der DDR haben das Land entsprechend sensibilisiert (man denke nur an die Reaktionen auf AFD-Chefin Frauke Petrys Aussage, dass auf der Grenze „notfalls“ Schusswaffen gegen Flüchtlinge eingesetzt werden müssen). Bilder von Deutschen in Uniform, die gegen Frauen und Kinder vorgehen, sind ein absolutes no go.

Also hat man sich dazu entschieden, den Grenzschutz und die damit verbundene Drecksarbeit auszulagern und Erdogan als Türsteher zu engagieren. Der Aufschrei der türkischen Zivilgesellschaft ist wohl weniger laut, zumal die Türkei unangenehme Bilder und Proteste besser unterdrücken kann.  Und auch wenn immer wieder unschöne Berichte von der syrisch-türkischen Grenze ans Tageslicht drängen (sogar Selbstschussanlagen, die unschöne Erinnerungen an die DDR wecken, werden errichtet): Der deutsche Staat und Europa als Ganzes machen sich nur indirekt die Hände schmutzig. Die Rolle als Schreibtischtäter, das ist in der Wahrnehmung eben doch nicht ganz so schlimm. Auch beziehungsweise vor allem deswegen braucht Europa die Türkei so sehr.

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