WTO zum Fall Russland gegen Ukraine

Es war eine historische, mit Spannung erwartete Entscheidung: wie wird die WTO (genau genommen das zuständige Panel, wir befinden uns noch in der ersten Instanz) mit der russischen Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen umgehen? Ein Fall, der auch wegen der US-Zölle auf Stahl und Aluminium, die von Trump ähnlich gerechtfertigt werden, bedeutsam ist. Die Panel-Entscheidung dürfte Trump jedenfalls nicht freuen.

Die entscheidende Frage besteht nämlich darin, ob eine Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen überhaupt unter die Zuständigkeit der WTO fällt. Also, ob eine Entscheidung darüber zulässig ist. Eine klassische Kompetenz-Kompetenz-Entscheidung.

Das ist insofern strittig, weil eine alte Entscheidung (im Fall Nicaragua-USA im Zuge des Contra-Kriegs) davon ausgegangen war, dass es sich bei der entsprechenden Bestimmung im GATT (konkret Artikel XXI) um eine „self-executing clause“ handelt. Mit anderen Worten: Sobald ein Staat seine Sicherheitsinteressen bedroht sieht, geht das die WTO nichts an.

Nun hat das Panel – vor allem im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte von Artikel XXI(b) – entschieden, dass auch Handelsmaßnahmen in Zeiten von Krisen in den internationalen Beziehungen (im Fall der Ukraine und Russlands liegt eine solche auf der Hand) unter seine Zuständigkeit fällt – die erste WTO-Entscheidung zu dieser Frage. Die von den USA vertretene Ansicht (die, wie gesagt, selbst ein vitales Interesse an der Entscheidung haben, weil sie Präjudizwirkung für den Streit rund um die Trump-Zölle hat) wurde ausdrücklich zurückgewiesen.

7.102. It follows from the Panel’s interpretation of Article XXI(b), as vesting in panels the power to review whether the requirements of the enumerated subparagraphs are met, rather than leaving it to the unfettered discretion of the invoking Member, that Article XXI(b)(iii) of the GATT 1994 is not totally „self-judging“ in the manner asserted by Russia.
7.103. Consequently, Russia’s argument that the Panel lacks jurisdiction to review Russia’s invocation of Article XXI(b)(iii) must fail. The Panel’s interpretation of Article XXI(b)(iii) also means that it rejects the United States‘ argument that Russia’s invocation of Article XXI(b)(iii) is „nonjusticiable“, to the extent that this argument also relies on the alleged totally „self-judging“ nature of the provision.

Auf dieser Grundlage hat das Panel

  1. bestätigt, dass es sich um eine „ernste Krise in den internationalen Beziehungen“ handelt und
  2. bestätigt, dass Russland die Voraussetzungen gemäß Artikel XXI(b) des GATT erfüllt hat.

Hier die entsprechenden Passagen im Original [Fußnoten entfernt]:

7.142. The Panel considers that there is a clear correlation between the change in government in Ukraine in early 2014, the newly sworn-in government’s decision to sign the EU-Ukraine Association Agreement in March 2014, the deterioration in Ukraine’s relations with Russia (as evidenced by the March 2014 UN General Assembly resolution concerning the territorial integrity of Ukraine), and the sanctions that have been imposed against Russia by several countries. In other words, Ukraine’s decision to pursue economic integration with the European Union rather than with the EaEU [Eurasian Economic Union] cannot reasonably be seen as unrelated to the events that followed, and led to the emergency in international relations,  during which Russia took a number of actions in respect of Ukraine, including the adoption of the 2016 measures.

7.143. The 2014 measures (i.e. the 2014 Belarus-Russia Border Bans on Transit of Resolution No. 778 Goods) operate to ban transit of goods subject to Russian sanctions from transiting across Russia from its border with Belarus. These bans were imposed specifically to prevent circumvention of the import bans that Russia had imposed under Resolution No. 778. The Resolution No. 778 import bans were responses taken by Russia in August 2014 to the sanctions that other countries had imposed against it earlier in 2014 in response to the emergency in international relations.
7.144. Moreover, all of the measures at issue restrict the transit from Ukraine of goods across Russia, particularly across the Ukraine-Russia border, in circumstances in which there is an emergency in Russia’s relations with Ukraine that affects the security of the Ukraine-Russia border and is recognized by the UN General Assembly as involving armed conflict.
7.145. In these circumstances, the measures at issue cannot be regarded as being so remote from, or unrelated to, the 2014 emergency, that it is implausible that Russia implemented the measures for the protection of its essential security interests arising out of that emergency. This conclusion is not undermined by evidence on the record that the general instability of the Ukraine-Russia border did not prevent some bilateral trade from taking place along parts of the border.

Die WTO darf diesen Überlegungen zufolge also auch über die US-Zölle auf Stahl und Aluminium, die von Trump in ähnlicher Form als Notfallmaßnahme rechtfertigt, urteilen. Was nichts am Dilemma in dieser Situation ändert: entscheidet die WTO gegen die USA, wird das den dortigen WTO-Kritikern weiter Aufwind geben, eine Rücknahme der Entscheidung erscheint derzeit unrealistisch. Die Autorität der WTO würde entsprechend leiden, im Extremfall steigen die USA überhaupt aus der WTO aus (was derzeit allerdings als unwahrscheinlich gilt). Wenn die WTO den USA wiederum Recht gibt, würde damit das Tor für zukünftige Berufungen auf Sicherheitsinteressen geöffnet: Andere WTO-Mitglieder könnten nun ihrerseits Verletzungen des Welthandelsrecht mit einem Verweis auf „ernste Krisen“ in den internationalen Beziehungen rechtfertigen. Am Ende bliebe vom WTO-Recht und der Rechtssicherheit nicht mehr viel übrig. Aber wer weiß, vielleicht gibt es ohnehin keine Entscheidung. Die USA verhindern seit geraumer Zeit die Nachbesetzung von Mitgliedern des Appellate Body (das Quasi-Gericht zweiter Instanz der WTO). Derzeit sind nur noch drei Mitglieder, das absolute Minimum, um Entscheidungen treffen zu können. Wenn Trump seine Blockadehaltung bis Dezember 2019 nicht aufgibt, wird das WTO-Streitbeilegungssystem handlungsunfähig.

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