Anlässlich der EU-Wahlen hat Kanzler Kurz mit seiner Fundamentalkritik an der EU-„Bevormundung“ und dem „Regelungswahn“ ein altes (und leidiges) Thema aufs Parkett der österreichischen Debatte gebracht. Fehlt nur noch die Geschichte mit der Gurkenkrümmung. Doch wie viel regelt die EU wirklich?
Alles eine Frage der Perspektive
Am Anfang der Spoiler: Ob die EU zu viel reguliert, lässt sich nicht sagen. Wie auch, es gibt ja keinen objektiv und universal gültigen Optimalwert (und es kann auch keinen geben), wie viele verbindliche Regeln gut sind. Hinzu kommt das altbekannte Problem, dass viele Regierungen die Verantwortung für eigene Probleme und Fehler gerne an die EU auszulagern versuchen – und dabei unterschlagen, dass die Mitgliedstaaten bei der Entstehung von EU-Recht eine tragende Rolle spielen. Die EU ist kein abstrakter, über allen Ländern stehender Superstaat.
EU oder Nationalstaat?
Gerade weil keine klare Antwort möglich ist, muss man differenzieren. Die erste entscheidende Frage dreht sich darum, ob und zu welchem Teil das durchaus vorhandene hohe Ausmaß von Regeln, mit denen jeder Bürger tagtäglich konfrontiert wird, auf die EU zurückgeht. Beziehungsweise wie hoch der Anteil genuin-innerstaatlicher Regeln ist, die auf keinem EU-Rechtsakt beruhen.
Außerdem betrifft EU-Recht viele Bereiche, die ohnehin geregelt werden würden. Oft genug sähe ein rein-nationalstaatliches Gesetz mehr oder weniger genauso aus wie die europäische Lösung, mit dem Unterschied, dass sie nur für einen Staat gegolten und damit zu mehr Problemen im gemeinsamen (europäischen) Markt geführt hätte. Unterschiedliche Standards vertragen sich bisweilen nicht mit dem allgemein gültigen Prinzip der wechselseitigen Anerkennung (von Waren): Man erinnere sich an die berühmte Cassis de Dijon-Entscheidung, die PoWi oder Jus-Studierende schon im ersten Semester lernen (zumindest zu meiner Zeit): Was gut genug für ein EU-Mitgliedsland ist, ist gut genug für alle anderen.
Welche Regeln?
Davon abgesehen muss man sich auch die Regeln selbst genauer ansehen. Es macht nun einmal einen Unterschied, ob es sich um eine Detailfrage handelt oder um Regeln mit weitreichenden Auswirkungen und quasi-gesetzgeberischem Charakter.
Zu beiden Fragen gibt es zahlreiche Untersuchungen, die Debatte ist ja nicht neu. In jüngerer Vergangenheit wurde sie insbesondere im Zusammenhang mit der Brexit-Abstimmung geführt, wo die Angaben zum Anteil von Regeln, die auf die EU zurückgehen, zwischen 13 und 62% schwankten (!).
Keine klaren Ansagen möglich. Oder: Es kommt drauf an
Dazu hatte Michael Dougan von der Universität Liverpool für das britische Parlament die Rechtsnatur der im Oktober 2015 verabschiedeten 119 Verordnungen genauer angesehen und gelangte zu dem Schluss, dass nur 8 gesetzgeberischen Charakter hatten, von denen fünf wiederum das EU-Budget betrafen und zwei eine kleine Änderung bestehender Regelungen. Die verbliebenen 111 Verordnungen behandelten technische Details.
Ganz allgemein warnt Dougan vor den Grenzen der Methodik und der Zuverlässigkeit derartiger Aussagen:
… any competent legal scholar would confirm that attempts to quantify the amount of “UK law”, or the amount of “EU law”, let alone the statistical relationship between the two, could never be anything more than an inaccurate guess. There are serious challenges even for a study that knows better what it is doing. For example: the distinction between EU legislative and non-legislative acts was only formalised after the Treaty of Lisbon; before that, separating out what was to be considered legislative from what was to be treated as essentially technical / administrative often meant checking individual legal acts on a case by case basis and in some cases making a judgment about their likely character (though there were indeed disputes where a more definitive classification was decided upon by the courts). Or again: what should we do with caselaw? In a common law system, the judges make “new law” through their interpretation of statutes as well as through their own jurisdiction to develop our unwritten legal principles. The EU is no different: the European Court of Justice operates, from that perspective, in a manner akin to a common law court. But how should we count caselaw in our statistics? There is simply no reliable or credible method. Yet if we do not count caselaw, then no study is able to offer a really accurate statistical picture.
EU-Recht ist keine einheitliche Masse
Darüber hinaus ist das EU-Recht nicht gleichmäßig verteilt. In einigen Bereichen (dem gemeinsamen Markt, Verbraucherschutz oder Umwelt) gibt es viele europäische Regeln –siehe noch einmal die oben genannte Cassis de Dijon-Entscheidung –, in anderen nur wenige (Steuern, Gesundheit, Bildung). Auch in den stark regulierten Bereichen lässt das EU-Recht den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung oft viel Spielraum, indem sie nur allgemeine Mindeststandards festlegt. Darüber hinaus sind nicht alle Rechtsregeln von gleicher Bedeutung. Dougan spricht daher von lediglich etwa 15-25 wirklich bedeutsamen EU-Rechtsakten pro Jahr.
Politik der Gefühle
Zahlen werden hier aber ohnehin nicht viel ausrichten. Wir leben im Zeitalter der Polit-Gefühle. Und der Eindruck einer überregulierenden, überaktiven EU, die ihre Mitglieder in ein (zu) enges Regelungskorsett presst, scheint durchaus weit verbreitet zu sein. Wenn der Bundeskanzler ihn ebenfalls (öffentlichkeitswirksam) äußert, wird sich das auch in nächster Zukunft nicht ändern. Sonderlich konstruktiv ist das freilich nicht.