Da gerade in den wichtigsten Fällen von Verfassungsverletzung Parlament und Regierung Streitparteien sind, empfiehlt es sich zur Entscheidung des Streites eine dritte Instanz zu berufen, die außerhalb dieses Gegensatzes steht und selbst in keiner Weise an der Ausübung der Macht beteiligt ist, die die Verfassung im wesentlichen zwischen Parlament und Regierung aufteilt. Dass diese Instanz dadurch selbst eine gewisse Macht erhält, ist unvermeidlich. Aber es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einem Organ keine andere als diese Macht verleiht, die in der Verfassungskontrolle liegt, oder ob man die Macht eines der beiden Hauptmachtträger durch die Übertragung der Verfassungskontrolle noch verstärkt. Das bleibt der Hauptvorzug eines Verfassungsgerichts: dass es selbst, weil von vornherein an der Machtausübung nicht beteiligt, in keinem notwendigen Gegensatz zu Parlament oder Regierung steht.
Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein (2. Auflage, herausgegeben von Robert Chr. van Ooyen, Mohr Siebeck 2019), 88.
