Immer wieder hört man, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein „Stellvertreterkrieg“ sei. Das ist verkürzend, widerspricht der Begriffsgeschichte und bedient Russlands Narrativ von einer unausweichlichen Konfrontation mit „dem Westen“.
Aber fangen wir von vorne an: Osteuropa- und Politikexpertinnen wie Alice Schwarzer (ironischen Unterton beim Lesen bitte dazudenken) verwenden den Begriff, aber auch Michael Lüders oder Johannes Varwick. Die Conclusio ist stets dieselbe: Die Ukraine als verlängerter Arm der USA in einer größeren geopolitischen Konfrontation zwischen „dem Westen“ und Russland. Also das, was Russland selbst zu behaupten versucht.
Jetzt könnte man (sehr) weit ausholen. Die Sache mit der Vorgeschichte, das Ende des Kalten Kalten Krieges, die Unabhängigkeit der Ukraine und der Zerfall der Sowjetunion, die NATO-Osterweiterung, die orangene Revolution, der Euromaidan, die Krim-Annexion, der von Russland angefachte Krieg in der Ostukraine und eben Russlands Überfall ab 24. Februar 2022. Wer Weltpolitik mit Game of Thrones-Augen sehen will und Staaten als Quasi-Menschen sieht, findet hier eine große gedankliche Spielwiese.
Das Problem beim Begriff des Stellvertreterkrieges liegt allerdings weniger in historischem Rosinenpicken als darin, dass er (a) der Ukraine ihre eigenen Interessen ebenso abspricht wie (b) ihre Handlungsfähigkeit und (c) einen eigenen Willen.
Zwar ist sie auf westliche und türkische Waffenlieferungen angewiesen. Man verkennt aber, dass sie immer noch selbst kämpft und die USA bzw die NATO tunlichst vermeiden, selbst, also unmittelbar einzuschreiten. Außerdem ist Russland – nanona – direkt involviert. Von Stellvertreterkriegen wurde und wird allerdings meist gesprochen, um Konflikte während des Kalten Krieges zu beschreiben, in denen die beiden großen Machtblöcke in gleichem Maße unterschiedliche Seiten unterstützten (und damit einander nicht direkt bekämpften). Typischerweise handelte es sich also um (internationalisierte) Bürgerkriege, als klassische Beispiele gelten die Konflikte in Angola oder dem Tschad. Dabei griff keine Großmacht mit eigenen Truppen ein beziehungsweise höchstens eine. Vielmehr sollen die „Stellvertreter“ ihre Agenda vorantreiben. Insofern passt der Begriff eher bei Russlands Unterstützung für „Separatisten“ im Krieg in der Ostukraine ab 2014 (wobei schon hier eigene Kämpfer entsendet wurden).
Ob neben solchen Gruppen auch ein souveräner Staat als „Stellvertreter“ zählen kann, sei dahingestellt. Wenn man es darauf anlegt und diese Frage bejaht, muss man sich jedenfalls der Konsequenz bewusst sein: Man spricht der Ukraine damit ihre Souveränität ab und degradiert sie zu einem bloßen Handlanger. Kein Wunder, dass Putin dieses Framing vorantreibt.
Akademische Begriffsdebatten sollten nicht über das Wesentliche hinwegtäuschen: Neben der unterstütztenden Großmacht hat auch ein „Proxy“ eigene Interessen. Zumal es gut möglich erscheint, dass Interessen einander widersprechen. Die USA haben geopolitisch eigentlich andere Baustellen als Europa (China anyone?), Trump wollte daher zahlreiche Truppen aus Deutschland abziehen. Den russischen Angriff haben sie – wie auch Europa und überhaupt jeder – nicht gebraucht. Vor diesem Hintergrund betont die Biden-Administration immer wieder, dass letztlich die ukrainische Regierung über Verhandlungen bestimmt (wobei es freilich Gegenstimmen gibt – eben weil die USA diesen Krieg nicht brauchen können).
Nun mag Russland versuchen, seinen Angriffskrieg als größere Konfrontation mit dem Westen zu framen und ja, sogar zu rationalisieren. Als ob es gar nicht hätte anders kommen können. Weil die bloße Existenz einer pro-westlichen beziehungsweise jedenfalls nicht Russland-hörigen Ukraine eine Bedrohung darstelle.
Wie gesagt, Game of Thrones-Logik. In einem derartigen Weltbild gibt es keinen Platz für demokratische Entscheidungen. Als ob es gänzlich undenkbar wäre, dass ein Staat bzw., genauer, dessen Bevölkerung sich aus der russischen Einflusssphäre herausbewegen möchte – man denke nur an Wladimir Putins widerholte Versuche, der Ukraine ihre Eigenstaatlichkeit und der Bevölkerung ihre Identität abzusprechen (siehe dazu hier). In gleicher Weise wurden weder die NATO-Osterweiterung noch der Regierungswechsel anno 2014 den jeweiligen Ländern von außen aufgezwungen. Und genausowenig war Russland „gezwungen“, die Ukraine anzugreifen.