Leseliste #3

Ein paar neue Empfehlungen/Zusammenfassungen der letzten Lesemonate (inklusive Zitate). Liste eins und zwei finden sich hier und hier.

Haruki Murakami, Von Männern, die keine Frauen haben

Nach meiner letzten Leseliste meinte eine Bekannte, ich würde doch gar wenig Belletristik lesen. Das habe ich mir zu Herzen genommen, um über den Sommer mal wieder etwas von Murakami zu lesen. Der Titel hat natürlich was für sich – so verkauft man Bücher. Murakamis Kurzgeschichten sind manchmal mehr, manchmal weniger kurzweilig. Die Murakami-esken surrealen Elemente sind nur gering ausgeprägt. Manch nette Zitate oder Dialoge finden sich durchaus. Murakami steht hier bisweilen an der Pforte zum Kitsch:

Aber ganz gleich, wie nahe man einem anderen Menschen steht, ganz gleich, wie sehr man ihn liebt, ins Herz schauen kann man ihm doch nicht. Selbst wenn man es sich noch so sehr wünscht. Man macht es sich nur schwer damit. Unter Umständen können wir uns selbst ins Herz schauen, aber auch das nur mit Mühe. Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit uns selbst ins Reine zu kommen. Will man einen anderen Menschen wirklich verstehen, kann man nur möglichst ehrlich und tief in sich selbst hineinschauen.

Sayyid Qutb, Milestones

Qutb gilt als einer der geistigen Urväter der Muslimbrüder. Und Milestones ist eines seiner bedeutsamsten Bücher. Mehr muss man eigentlich nicht sagen: Man sollte nach Möglichkeit ja immer (auch) Primärquellen lesen, um sich ein Urteil zu bilden. Qutb schreibt davon, wie moralisch verkommen nicht nur die westlichen, sondern auch die muslimischen Gesellschaften und ihre Regierungen sind. Um zugleich für ein auf Gottes Herrschaft auf Himmel und eben auch in weltlichen Dingen zu plädieren. Zentral dabei ist der Begriff der Unterwerfung. Gut möglich, dass Houellebecq Anleihen bei Qutb genommen hat. Hier erschließt sich ein direkter Zugang zur Gedankenwelt des Islamismus. Wer ihn besser verstehen will, sollte Qutb im Original lesen.

David van Reybrouck, Against Elections

Im Zeitalter der Postdemokratie (Colin Crouch) oder gar der Post-Post-Demokratie (Janik, aber das haben gewiss andere auch schon so gesagt) ist es en vogue, sich näher mit der Demokratie auseinanderzusetzen. Van Reybroucks Hauptthese besteht darin, dass Wahlen nicht notwendigerweise erforderlich sind. Historisch war das Los entscheidend, wobei nur politisch mündige Bürger überhaupt partizipieren durften. Hebt sich angenehm vom Mainstream ab und scheut sich nicht davor, Forderungen zu stellen: Genau genommen eine Mischform aus traditionellen Wahlen und per Los bestellten Politikern. Das klingt vor der Lektüre dieses kleinen Buches abenteuerlicher als danach.

Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben

Die Briten haben im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten abgehört und die Protokolle verschriftlicht. Das Ergebnis ist ein bis heute erhaltender unmittelbarer Einblick in die Lebenswelt deutscher Soldaten. Worüber sie gesprochen haben ist dabei genauso interessant wie das Wie. Von Adolf Hitler über technologische Revolutionen im Bereich der Rüstung bis hin zu Frauen (über die so viel gesprochen wurde, dass man die Verschriftlichung der Protokolle oft abbrach und erst wieder bei militärisch relevanten Themen neu aufnahm).

Timothy Snyder, On Tyranny

Derzeit ist der globale Rückbau der Demokratie ein großes und besorgniserregendes Thema. Snyder hat dieser Frage vor dem Hintergrund der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA einen Essay gewidmet. Seine größte Sorge gilt der alten Frage, wie viel Freiheit man für Sicherheit aufzugeben bereit ist.

William Strauss und Neil Howe, The Fourth Turning

Eigentlich ein älteres Buch. Als bekannt wurde, dass es maßgeblichen Einfluss auf das Weltbild von Steve Bannon, Breitbart-Frontmann und (mittlerweile ehemaliger) Berater von Donald Trump hatte, wurde es schlagartig wieder relevant. Die beiden Autoren vertreten die Grundthese, dass die Geschichte seit je her in Zyklen („turnings“) verläuft. Und die USA – das Buch stammt aus dem Jahr 1997 – unweigerlich auf den vierten Zyklus und damit auf eine große Krise zusteuern. Eine richtig große Krise, genau genommen einen Weltuntergang (siehe Zitat unten). Apokalyptisch und voller historischer Querverweise ist das Buch auf jeden Fall. Aber, wie so oft bei großen Thesen, hat man hier die Welt (genauer gesagt: die Geschichte) wohl darauf zugeschnitten, sie zu untermauern. Oft kommt es eben nicht nur darauf an, was man erwähnt, sondern noch mehr darauf, was man weglässt. Den Vorwurf der Verkürzung müssen sich beide Autoren gewiss gefallen lassen.

The fourth turning could mark the end of modernity. The Western saecular rhythm—which began in the mid-fifteenth century with the Renaissance—could come to an abrupt terminus. The seventh modern saeculum would be the last. This too could come from total war, terrible but not final. There could be a complete collapse of science, culture, politics, and society. The Western civilization of Toynbee and the Faustian culture of Spengler would come to the inexorable close their prophesiers foresaw. A New Dark Ages would settle in, until some new civilization could be cobbled together from the ruins. The cycle of generations would also end, replaced by an ancient cycle of tradition (and fixed social roles for each phase of life) that would not allow progress. As with an omnicide [die komplette Selbstausrottung des Menschen], such a dire result would probably happen only when a dominant nation (like today’s America) lets a Fourth Turning ekpyrosis [Weltuntergang] engulf the planet. But this outcome is well within the reach of foreseeable technology and malevolence.

The Fourth Turning could spare modernity but mark the end of our nation. It could close the book on the political constitution, popular culture, and moral standing that the word America has come to signify.

Francis Fukuyama, Political Order and Political Decay

Ein großes (und sehr dickes) Buch zur modernen Geschichte zum Aufstieg und Zerfall von Staaten beziehungsweise allgemein politischer Einheiten. Dabei spricht Fukuyama eine in letzter Zeit immer öfter gehörte Warnung aus: Auch eine Demokratie ist nicht unumstößlich.

No one living in an established liberal democracy should therefore be complacent about the inevitability of its survival. There is no automatic histoprical mechanism that makes progress inevitable, or that prevents decay and backsliding. Democracies exist and survive only because people want and are willing to fight for them; leadership, organizatzional ability, and oftentimes sheer good luck are needed for them to prevail.

Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt

Wie gesagt: Man sollte auch Originale lesen. Auch von Jean Ziegler. Dieses etwas ältere Buch aus seiner Feder ist jedenfalls polemisch, merkbar wütend und verfolgt eine eindeutige politische Agenda. Für Differenzierungen bleibt hier wenig Raum – man sollte nicht vergessen, dass Ziegler öffentlich gefördert hat, Spekulanten aufzuhängen.

Die neuen Herrscher der Welt ist ein etwas älteres Buch (2002 erschienen) aus seiner zum Polemischen neigenden Feder. Auch Struktur vermisst man. Es kann schon mal passieren, dass es in einem Absatz um persönliche Erfahrungen, böse Politiker oder nicht-fassbare Firmen (die „bösen Giganten“) geht und gleich darauf um etwas gänzlich anderes.  Allerdings würfelt er auch wild zusammen, um ein doch ins Diffuse neigendes Bild einer raffgierigen kapitalistischen Elite im Kampf gegen ehrbare und bisweilen gar romantisierende zivilgesellschaftliche Gruppen zu kreieren.

Indem sich die Diktatur des Kapitals hinter blinden und anonymen „Gesetzen des Marktes“ verschanzt, zwingt sie uns die Vorstellung von einer geschlossenen und unveränderlichen Welt auf. Sie verwirft jede menschliche Initiative, jedes geschichtliche Handeln, das aus der subversiven Tradition des noch nicht Bestehenden, noch nicht Erreichten, mit einem Wort: der Utopie, hervorgeht. Sie sperrt die Zukunft aus. Bei näherer Betrachtung streicht sich die neoliberale Ideologie letzten Endes als Ideologie selbst durch, da sie nichts anderes sein will als die schlichte Transkription der angeblichen „Gesetze“, die jederzeit und überall die wirtschaftliche Zukunft beherrschen.

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