Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen steht seit geraumer Zeit unter Hochspannung. Erst unlängst warnte Richard Herzinger in der NZZ vor der „Gefahr des „Putinismus.“ Man sollte sich jedoch davor hüten, die Sichtweise Russlands auf das internationale System und dessen Platz darin zu ignorieren.
Die Sorge vor dem russischen Bären
Die Liste der aus jüngerer Vergangenheit stammenden Anklagepunkte gegen Russland hat es in sich: Sie reicht von der Unterstützung Baschar al-Assads in Syrien über die völkerrechtswidrige Annexion der Krim (der häufig zitierte Artikel von Reinhard Merkel in der FAZ stellt eine Mindermeinung dar, siehe etwa auch das Abstimmungsverhalten bei der Generalversammlung dazu) sowie der Separatisten in der Ostukraine bis hin zur gezielten Destabilisierung der EU. Insbesondere die Staaten mit entsprechenden historischen Erfahrungen – allen voran Polen oder die baltischen Republiken – sind in größter Sorge. Joseph Dunford, der höchsten militärischen Berater von Präsident Obama, sieht in Russland aufgrund seiner Nuklearwaffen, dem Ukraine-Konflikt und dem allgemeinen Auftreten an der Grenze zu NATO-Mitgliedern die größte globale Sicherheitsbedrohung.
Die Krimfrage
Zentraler Streitpunkt war und ist die Beurteilung der Annexion der Krim. John Kerry verurteilte diese als „außerordentliche Aggression“: „You just don’t invade another country on phony pretext in order to assert your interests. This is an act of aggression that is completely trumped up in terms of its pretext. It’s really 19th century behaviour in the 21st century” wie er es ausdrückte (aus russischer Sicht war diese Aussage angesichts des US-Angriffs auf den Irak 2003 blanker Hohn).
Erfolgreiche Konfliktlösung verlangt es, sich in die Position des Gegenübers hineinzuversetzen. Die Sorge rührt insofern daher, dass die Annexion der Krim Russland eigentlich schadet. Von den Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen abgesehen hat die russische beziehungsweise pro-russische Bevölkerung innerhalb der Ukraine eigentlich einen höheren Nutzen (die Einwohner der Krim etwa waren etwa essentiell für den Wahlsieg Janukowitschs 2010). Sie dient als Druckmittel und Garant für den Fortbestand der ukrainisch-russischen Partnerschaft in wirtschaftlichen und sozialen Belangen. Man darf nicht vergessen, dass die Ukraine für Russland aus wirtschaftlichen (als Korridor für Öl- und Gaslieferungen nach Europa und als Absatzmarkt), geostrategischen und historischen Gründen der bedeutsamste GUS-Staat ist. Auch deswegen tritt Russland im Osten weniger offensiv auf als bei der Krim: So wurden die Teilrepubliken nach ihren Unabhängigkeitserklärungen nicht anerkannt oder gar eingegliedert. Innerhalb Russlands werden Pokerchips zu einer Belastung. Würde der Osten herausgelöst, könnte die restliche Ukraine endgültig verloren gehen. Davon abgesehen hat Russland schlechte Erfahrungen mit der Anerkennung von Südossetiens und Abchasiens im September 2008 gemacht und enge Verbündete – darunter selbst die faktisch von Russland abhängigen Staaten Weißrussland und Kirgistan, die dabei vom traditionell sezessionsfeindlichen China unterstützt wurden – verärgert.
Russland in der Defensive?
Die Annexion der Krim wird in russischen Kreisen jedoch nicht als Aggression, sondern als Reaktion auf eine vorangegangene Aggression des Westens angesehen. Schließlich befanden die EU und Russland sich spätestens seit dem Vilnius-Gipfel von 2013 in einem Tauziehen um die Ukraine. Das Scheitern der Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine vom 21. Februar 2014 beziehungsweise die Euromaidan-Revolution als solche galt insofern als eine zumindest teilweise von außen gesteuerte Verschwörung mit dem Ziel, eine pro-westliche Regierung zu installieren. Russland hatte die Befürchtung, dass die neuen Machthaber das Abkommen zur Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol einseitig kündigen, die dortigen russischen Bewohner unterdrücken und eine schnellstmögliche Mitgliedschaft in der NATO sowie der EU anstreben könnte. Derartige Entwicklungen sollten im Keim erstickt werden.
Auf einer allgemeineren Ebene möchte Russland dem Modell des „Regime Change“, das bereits im Zusammenhang mit Libyen kritisiert worden war, eine klare Absage erteilen, zumal Wladimir Putin große Sorge hat, selbst einem solchem zum Opfer zu fallen. Russland – wie auch China – sind Verfechter des traditionell-robusten Souveränitätsbegriffs. Die Einmischung in Aufstände, Volkserhebungen oder Revolutionen erfolgt demgemäß grundsätzlich als Reaktion auf vorangegangene Verletzungen der Souveränität, wobei etwaige Menschenrechtsverletzungen oder demokratische Bestrebungen in den Hintergrund treten.
Daraus ergibt sich auch die Brücke zum Konflikt in Syrien. Die Allianz mit der Familie al-Assad besteht schließlich seit 1971 und der Errichtung des Marinestützpunkts in Tartus, einer von nur zwei russischen Militärbasen außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. In Latakia befindet sich nun überdies ein Luftwaffenstützpunkt, durch das installierte Fliegerabwehrsystem kontrolliert Russland weiterhin den syrischen Luftraum. Russland hält an al-Assad fest, um den letzten Strohhalm physischer Präsenz in der Region nicht zu verlieren. Etwaige Friedenslösungen sollten sich also weniger an der Person al-Assads denn an den russischen Interessen in der Region orientieren. Der russische UN-Botschafter Witali Churkin hatte 2012 einen Friedensplan vorgelegt, der einen Abgang al-Assads vorgesehen hätte. Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten diesen jedoch im Glauben an dessen baldiges Ende abgelehnt – mitunter nicht nur eine militärische Fehleinschätzung hinsichtlich der verbliebenen Schlagkraft der syrischen Armee, sondern auch ein Anzeichen dafür, dass der Westen obendrein Russland endgültig aus der Region vertreiben wollte?
Die geopolitische Dimension
Von außen ist eine Einschätzung der beteiligten Akteure und ihrer tatsächlichen Absichten naturgemäß schwer. Es erscheint jedoch dringend geboten, die russischen Aussagen und Positionen ernst zu nehmen. Russland sieht sich weniger als Aggressor, denn als Besitzstandwahrer oder regionalen Player, der seine Einflusssphäre gewahrt sehen will. In der Konfrontation mit dem Westen geht es weniger um Demokratie und Menschenrechte denn um Geopolitik: Die Bedeutung und Beherrschung von Räumen aufgrund ihrer geschichtlichen und kulturellen Prägung, darauf befindlicher Ressourcen oder ihrer allfälligen Bedeutung als Zufahrts- und Versorgungswege.
Zu den bereits gemachten Fehlern im Umgang mit Russland sollten keine neuen hinzutreten. Eine friedliche Lösung in der Ukraine wie auch in Syrien verlangt nach einer gebührenden Einbeziehung der geopolitischen Dimension und den daraus folgenden Handlungsmustern beziehungsweise -optionen. So schwer es manchen auch fallen mag: Das bedeutet am Ende des Tages auch, Russland nicht einseitig als Aggressor zu verdammen.