Dschihad und Staatenlosigkeit

Seitdem die außerordentliche Anziehungskraft des „Islamischen Staats“ unzählige ausländische Kämpfer in seinen Bann gezogen hat, wird in regelmäßigen Abständen über die Möglichkeit eines Staatsbürgerschaftsentzugs debattiert. Womit die Frage im Raum steht, ob das völkerrechtlich überhaupt möglich ist.

Entsprechende Vorstöße gibt es in zahlreichen westlichen Ländern, darunter Großbritannien, Kanada, die Niederlande und Norwegen oder die USA. In den meisten von ihnen, darunter auch Österreich, ist eine derartige Maßnahme allerdings grundsätzlich jedenfalls nur möglich, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.

Staatsbürgerschaft im Völkerrecht – ein kurzer geschichtlicher Überblick

Das Staatsbürgerschaftsrecht hat sich historisch stark gewandelt. Im 19. Jahrhundert handelte es sich hierbei um eine rein-innerstaatliche Angelegenheit, das Völkerrecht hatte wenig bis gar keinen Einfluss. Staaten stand es also völlig frei, den Erwerb und Entzug der Staatsbürgerschaft zu regeln. Zentral war das wechselseitige Treueband zwischen Staat und Bürger, die Staatsbürgerschaft konnte dementsprechend bei entsprechenden Fehlverhalten als individuelle Bestrafungsmaßnahme einseitig entzogen werden.

Auf völkerrechtlicher Ebene wurde dieses Thema vor allem mit Beginn der politisch motivierten kollektiven Ausbürgerungen bedeutsam. So wurden in der Sowjetunion nach dem Ende des Bürgerkriegs gut zwei Millionen Gegner der siegreichen Bolschewiken staatenlos, in Italien wurde 1926 ein Gesetz erlassen, durch das viele italienische Emigranten ihre Staatsbürgerschaft verloren. Deutschland erließ 1933 das Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, vor allem im Ausland lebende Regimegegner und nach 1918 aus dem Osten eingewanderte beziehungsweise eingebürgerte Juden waren betroffen. Spätestens ab 1941 erfolgte der Staatsbürgerschaftsentzug in Deutschland nicht mehr vordergründig auf politischer, sondern auf ethnisch-religiöser Grundlage. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden wiederum die deutschen Minderheiten in der Tschechoslowakei (auch Ungarn waren dort betroffen), Polen und Jugoslawien ausgebürgert.

Die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 beinhaltet als Reaktion auf diese Ereignisse in Artikel 15 das Recht auf Staatsbürgerschaft, wobei niemandem willkürlich seine Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Resolution der UN-Generalversammlung und folglich um kein bindendes Recht. Diese Bestimmung ist jedoch für die schwierige Beantwortung der Frage relevant, ob sich ein völkergewohnheitsrechtliches individuelles Recht auf Staatsbürgerschaft herausgebildet hat. Tendenziell wird ein solches abgelehnt, zumal Artikel 15 offenlässt, welche Staatsbürgerschaft beansprucht werden kann und unter welchen Umständen sie zu verleihen ist.

Dennoch unterliegen Staaten im Umgang mit der Staatsangehörigkeit strengen Regeln. Unter anderem dürfen sie ganz allgemein niemanden aus rassistischen oder religiösen Gründen ausbürgern. Ebenso besteht heute wohl ein völkerrechtliches Verbot von Massenausbürgerungen.

Außerdem bestehen seitdem zahlreiche Bestrebungen zur Verhinderung von Staatenlosigkeit, darunter insbesondere das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 oder das Europäische Übereinkommen über Staatsangehörigkeit von 1997. Beide sind für Österreich als Vertragspartei bindend.

Die österreichischen Verpflichtungen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit

Artikel 8 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit verbietet den Staatsbürgerschaftsentzug, wenn der Betroffene dadurch staatenlos wird. Laut Artikel 8 Absatz 3 können Staaten sich allerdings bei der Unterzeichnung, Ratifikation oder dem Betritt das Recht vorbehalten, jemandem aufgrund einer Verletzung der „Treuepflicht“ dennoch die Staatsbürgerschaft zu entziehen – selbst wenn die betroffene Person dadurch staatenlos wird. Gemeint sind damit die Missachtung eines ausdrücklichen Verbots, in den Dienst eines anderen Staats zu treten, die schwerwiegende Beeinträchtigung vitaler Staatsinteressen und das Aufkündigen der Treue beziehungsweise die Bekundung der Treue für einen anderen Staat.

Österreich hat sich auf Grundlage dieser Bestimmung das Recht vorbehalten, in zwei Fällen die Staatsbürgerschaft zu entziehen: Im Falle des freiwilligen Eintritts in den Militärdienst eines anderen Staats oder wenn sich jemand im Rahmen der Tätigkeit für einen fremden Staat in einer Art und Weise verhält, die dem Ansehen oder den Interessen Österreichs schadet. Hintergrund für die ersteren einschränkende Erklärung  war unter anderem, dass Konsequenzen daraus gezogen werden sollten, wenn Österreicher sich dem Heer eines fremden Staates (zum Beispiel im Rahmen sich der französischen Fremdenlegion), anschließen könnten. Die Mitgliedschaft in Terrorgruppen oder die Teilnahme an Kampfhandlungen auf Seiten des „Islamischen Staats“ ist – da letzterer allgemein nicht als Staat gilt beziehungsweise anerkannt wird – folglich nicht erfasst. Dschihadisten kann also die Staatsbürgerschaft nur entzogen werden, wenn sie mindestens eine weitere Staatsbürgerschaft besitzen. Selbst wenn dem der Fall sein sollte, muss außerdem sichergestellt sein, dass sie diese nicht zeitgleich verlieren.

Noch strengere Regelungen finden sich im Europäischen Übereinkommen über Staatsangehörigkeit. Laut Artikel 7 Absatz 1 ist der Entzug der Staatsbürgerschaft nur aus einigen wenigen Gründen erlaubt, wobei Absatz 3 bestimmt, dass eine solche nur dann vorgenommen werden darf, wenn daraus keine Staatenlosigkeit folgt. Einzig ausgenommen ist der Erwerb der Staatenlosigkeit durch arglistiges Verhalten, falsche Angaben oder die Verschleierung erheblicher Tatsachen, sofern diese der betroffenen Person zugerechnet werden können. Auch hier hat Österreich Vorbehalte abgegeben, die sich mit jenen zum Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit decken.

Welche Staaten könnten (völkerrechtlich) IS-Kämpfern die Staatsbürgerschaft entziehen?

Eine Reihe von Staaten (darunter Irland, Großbritannien, Belgien und Frankreich) haben das in Artikel 8 vorgesehene Recht auf Abgabe eines Vorbehaltes wesentlich stärker in Anspruch genommen. Sie sind außerdem nicht dem Europäischen Übereinkommen über Staatsangehörigkeit beigetreten. Daher können diese Staaten rein-völkerrechtlich auch im Falle von Verletzungen der Treue- und Loyalitätspflicht sogar dann die Staatsbürgerschaft entziehen, wenn die Betroffenen dadurch staatenlos werden. Wenn sich jemand dem „Islamischen Staat“ anschließt, kann eine solche in jedem Fall angenommen werden. Allerdings machen Staaten von dieser Möglichkeit nur bedingt Gebrauch (man denke an die hitzige Diskussion in Frankreich zu dem Thema). Jedenfalls in Belgien ist der Verlust der Staatsbürgerschaft in besonders schwerwiegenden Fällen aber auch dann möglich, wenn die betroffene Person dadurch staatenlos wird; betroffen sind Belgier, die ihre Staatsbürgerschaft ab Geburt aufgrund der Abstammung von einem belgischen Elternteil oder als ein in Belgien geborenes Kind von einem Fremden zweiter oder dritter Generation erhalten haben.

Fazit

Der „Islamische Staat“ hat das internationale Recht und die internationale Staatengemeinschaft in vielerlei Hinsicht erschüttert. Nicht zuletzt dadurch, dass es sich um ein staatsähnliches Gebilde handelt, hat er auch die Diskussion rund um einen möglichen Entzug der Staatsbürgerschaft ungeachtet einer daraus möglicherweise resultierenden Staatenlosigkeit neu entfacht.

Nach derzeit geltendem Völkerrecht kann Österreich eine solche Maßnahme jedenfalls nicht ergreifen. Ein vereinzelt kolportierter Ausweg – die Anerkennung des „Islamischen Staats“, womit die Betroffenen streng genommen nicht unbedingt staatenlos würden, weil sie ja als dessen Staatsbürger angesehen werden könnten – ist freilich bloße Fiktion, die keiner näheren Erörterung bedarf.

Ganz allgemein gesprochen genießt die Verringerung und Vermeidung von Staatenlosigkeit nach wie vor absolute Priorität. Ob es sich bei den derzeit kursierenden politischen Forderungen um bloße Aufmerksamkeitshascherei handelt beziehungsweise sie den Eindruck vermitteln sollen, „etwas zu tun“ oder ob sie doch zu einer tiefgreifenden Veränderung des Völkerrechts in diesem Bereich führen, wird sich erst weisen.

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