Identity ist gerade en vogue. „Westliche“ Kultur, das „judeo-christliche Erbe“, die „Angst vor dem Islam“ oder gar die „Bevölkerungsaustausch“-These. Anlass genug für einen Blick über die Grenzen. In den Libanon etwa. So oft kommt man hier ja nicht vorbei.
Ein kleiner Reiseblog aus dem Libanon; die ersten beiden Einträge sind hier und hier zu finden.
Wer bin ich, wer sind wir, wer sind die anderen? Identität ist überall. Spätestens wenn Francis Fukuyama, der sich mit seiner These vom Ende der Geschichte in den Annalen der politischen Theorie verewigt hat, ein Buch dazu schreibt (meine Rezension dazu gibt es hier). So richtig scheinen „wir“ (ohne Anführungszeichen geht an dieser Stelle nicht) uns damit noch nicht zurechtzufinden.
Identitätsverfassung
Die Frage nach dem Wir und der Repräsentation stellt sich wohl überall. Man kann sie ignorieren oder ausdrücklich festschreiben. Das Lehrbuchbeispiel für zweiteren Weg – der Ethnokratie – ist der Libanon. Das kommt nicht von ungefähr, seine Bevölkerung ist schließlich seit jeher inhärent divers, unterteilt in Christen und Muslime mitsamt den dazugehörigen Untergruppen: rund ein Fünftel sind maronitische Christen, 8% Griechisch-Orthodoxe und 5% Melkiten (waren mir neu). Sunniten und Schiiten machen jeweils etwas mehr als ein Viertel aus. Schätzungsweise. Denn richtig offiziell zählen will man hier nicht. Zu groß die Gefahr, damit ethnische Spannungen anzuheizen. Wenn eine Gruppe größer ist als angenommen, könnte sie mehr Teilhabe ein fordern.

Schließlich spricht Artikel 24 der libanesischen Verfassung ausdrücklich von der verhältnismäßigen Repräsentation innerhalb der christlichen und islamischen Gruppen. Religious Diversity ist also Verfassungsmaxime. Traditionell ist der Präsident ein Christ, der Ministerpräsident wiederum Sunni, der Sprecher des Parlaments Schiit.
Überreligiöse oder genuin säkulare Parteien und Kandidaten gibt es keine (bzw. haben sie keine Chance). Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe ist entscheidend bei der Vergabe von öffentlichen Ämtern, politischen Posten und sogar der Gesundheitsversorgung. Dementsprechend schwierig gestaltet sich das Finden von Mehrheiten, so etwa bei den Budgetverhandlungen. Die Gruppe hat Vorrang, selbst bei den kleinsten Entscheidungen muss jeder Vertreter zustimmen und mitbedacht werden – übergreifender Konsens ist dementsprechend rar bis nonexistent.
„Bevölkerungsaustausch“
Libanons identity politics erklären auch den Umgang mit den rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen und 200 000 bis zu 450 000 Palästinensern. Die überwiegende Mehrheit von ihnen ist schließlich Sunniten und niemand möchte die delikate Balance innerhalb der jeweiligen ethnischen und religiösen Gruppen gefährden. Zu frisch die Erinnerung an den Bürgerkrieg, zu viele einflussreiche Gruppierungen und Familien profitieren vom status quo, zu viele glauben, vom status quo profitieren zu können. Ein „Bevölkerungsaustausch“-Diskurs auf Steroiden.
Außerdem ist der Libanon aufgrund der palästinensischen Flüchtlinge, die nach dem israelisch-arabischen Krieg von 1948 ins Land gekommen sind, nie der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten. In Shatila hat sich gewissermaßen eine Stadt in der Stadt herausgebildet (siehe die Bildergalerie unten), inklusive eigenen Ordnungskräften und inoffiziellen Bürgermeistern.
Eingang in eine Stadt in der Stadt Gedenktafel für das Sabra und Shatila-Massaker von 1982
Bis heute hat keine der großen Parteien – auch die Sunniten nicht – ein Interesse an der rechtlichen Gleichstellung oder gar Einbürgerung der Flüchtlinge im Land. Daher haben nur rund 4,5 Millionen der etwa 6,2 Millionen Einwohner die libanesische Staatsbürgerschaft. Ein Vorschlag, mit dem auch Frauen die libanesische Staatsbürgerschaft weitergeben könnten, wurde abgelehnt – zu groß die Sorge, dass sie syrische oder palästinensische Männer heiraten könnten. Selbst fest verbaute Unterkünfte werden nicht gerne gesehen, die Armee hat erst im Juli syrische Flüchtlingssiedlungen zerstört.
Aller Konsens ist schwer
Irgendwie funktioniert das System dann doch. Irgendwie. Der Libanon ist grundsätzlich friedlich, Wahlen finden irgendwann dann doch statt (die Wahlen des Vorjahres ließen neun Jahre auf sich warten); es könnte schlimmer sein. Dennoch bleiben massive Probleme bei der Rechtsstaatlichkeit, Korruption und die systematische Diskriminierung syrischer und palästinensischer Flüchtlinge. Im Transformation Index der Bertelsmann Stiftung liegt das Land auf Platz 101 von 129 im Governance Index. Der Libanon ist vieles, aber gewiss kein gutes Vorbild.
Verfassungsrechtliche Nüchternheit
Österreich hat den anderen Weg gewählt, hier gilt das Konzept der Staatsbürgerschafts-Demokratie. Während die Präambel der libanesischen Verfassung von der „arabischen Identität“ des Libanons spricht, findet sich der Begriff des „Staatsvolk“ in Österreichs Verfassung ohne nähere Definition und nur dann, wenn es darum geht, wer den Nationalrat wählt (Artikel 26 Bundes-Verfassungsgesetz). Auf programmatische Erklärungen zum österreichischen Volk oder seiner Geschichte wurde bewusst verzichtet (vgl dazu etwa die Ausführungen im ersten Abschnitt der kroatischen Verfassung).
Identitätsvakuum
Diese Nüchternheit hat Vorteile. Heikle Fragen bleiben bewusst offen, die Verfassungsordnung gibt keine ethnische oder religiöse Grundausrichtung vor. Ein Identitätsvakuum, das FPÖ und ÖVP schon lange beackern. De iure spielt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten festgeschriebenen Gruppe bei der Vergabe von Posten und dergleichen aber keine Rolle. Es gilt das Primat der Parteien, mit all seinen eigenen Nachteilen. Die Frage, wer wir sind, bleibt dabei außen vor (mit Festschreibungen würde sie freilich auch nicht beantwortet werden). Man muss nicht jede Büchse aufmachen.