Ist Österreich eine Diktatur?

Einmal mehr wurde gestern in Wien demonstriert: gegen Corona-Maßnahmen, die Impfpflicht, die Regierung und gewiss noch einiges mehr. Dennoch ist Österreich Herbert Kickl zufolge zu einer Diktatur geworden. Ist dem wirklich so? Ein (nicht ganz erst gemeinter) kleiner Faktencheck.

„Österreich ist mit heutigem Tag eine Diktatur!“ ließ FPÖ-Chef Herbert Kickl am 19.11. anlässlich der geplanten Impfpflicht verlautbaren. Auch bei den Coronademos sieht und hört man das Wort immer wieder. Anlass genug, sich das ein wenig näher anzusehen.

Was ist eine Diktatur?

Beginnen wir einmal, wenn wir schon Begriffshygiene betreiben, mit der gängigen Definition von Diktaturen. Allgemein spricht man hier von der „Herrschaft einer Person, Gruppe, Partei oder Klasse, die die Macht im Staat monopolisiert hat und sie unbeschränkt (oder ohne große Einschränkung) ausübt“.[1]

Als solche hat sie unterschiedliche Erscheinungsformen, was die Unterscheidung zu anderen Arten unterdrückerischer Machtausübung bisweilen schwer macht. Im weniger wissenschaftlichen Sinne werden die Begriffe Autokratie, Despotie, Faschismus oder eben Diktatur oftmals synonym verwendet.

Für eine Diktatur ist jedenfalls das Fehlen einer Reihe von Elementen charakteristisch, die wir mit liberalen Demokratien assoziieren: Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt beschreibt sie dementsprechend als eine „[p]olitische Ordnungsform, in welcher das Volk auf die Ausübung politischer Herrschaft nicht durch – in freien Wahlen durchgeführte – Auswahl unter konkurrierenden Politik- bzw. Personalangeboten Einfluss nehmen kann“.[2]

Wir fassen also zusammen: Statt Gewaltentrennung liegt die Macht in Diktaturen in den Händen eines einzelnen oder einiger weniger, es gibt keine Opposition (allenfalls zum Schein, also Pseudo-Gegenkandidaten bei Präsidentschaftswahlen um zwecks Legitimitätssteigerung die Existenz von Alternativen zu simulieren), keine Meinungs- und Pressefreiheit (abermals allenfalls nur zum Schein) und keine Rechtsstaatlichkeit: Die Macht beruht nicht auf Gesetzen, die von gewählten Repräsentanten gemacht werden, sondern liegt faktisch bei der Exekutive/Polizei und Militär, die wiederum dem willkürlichen Geheiß der Machthaber folgen.

Und Österreich?

Jetzt kann man sich fragen, was das alles mit Österreich zu tun haben soll. Auch wenn nicht alles perfekt ist, sind wir von einer Diktatur weit, sehr weit entfernt (a geh).

So befindet sich die Alpenrepublik im Democracy Index 2020 des Economist gleichauf mit Costa Rica auf Rang 18 (Spitzenreiter ist Norwegen vor Island, Schweden, Neuseeland, Kanada, Finnland und Dänemark), mit – vergleichsweise – auffallend niedrigen Werten beim Funktionieren der Verwaltung und der politischen Kultur (quelle surprise!). Beim Freedom House schneidet Österreich mit dem 25. Platz ebenfalls gut ab, hier sind Finnland, Norwegen und Schweden gleichauf ganz vorne, gefolgt von Neuseeland, den Niederlanden, Uruguay, Kanada, Australien, Irland, Luxemburg und Dänemark.

Auch das Freedom House bemängelt die Verwaltung und Korruption, Ibizagate werden im aktuellen Länderbericht ebenso ausdrücklich genannt wie das Verfahren gegen den ehemaligen Finanzminister Karl-Heinz Grasser und die Kickback-Zahlungen im Zusammenhang mit der Eurofighter-Beschaffung. Dazu kommt die fehlende Transparenz, auch im Zusammenhang mit den COVID-Ausschüttungen, und die immer noch fehlende Umsetzung des Informationsfreiheitsgesetzes, sowie die mediale Machtkonzentration in verhältnismäßig wenigen Händen:

Public-sector corruption is problematic, and the political class is widely perceived as corrupt. The Council of Europe’s (CoE) Group of States against Corruption has criticized Austria for weak party-finance legislation and for failing to adequately regulate lobbying and prevent corruption amongst parliamentarians. Austria has seen an increase in indictments for, and the rising costs of, corruption in recent years. … Austria’s government has frequently been criticized for inadequate transparency. Official secrecy remains enshrined in the constitution. For over six years, a draft freedom-of-information law has been mired in parliamentary procedures. It remained so at the end of 2020, despite the ÖVP–Green government’s pledge to improve transparency. Austria’s overall legal framework on access to information, containing vague criteria for compliance and lacking a strong appeals mechanism, is weak. … Transparency on COVID-19-related expenditures was also lacking. Spending related to the government’s stimulus plan, valued at €50 billion ($60.5 billion) by June 2020, was routed through a government-controlled company, limiting the parliament’s ability to scrutinize outlays. … Media ownership remains highly concentrated, particularly in the provinces. The government exerts some influence on the state broadcaster, the Austrian Broadcasting Corporation (ORF). In November 2020, ORF board member Hans Peter Haselsteiner resigned, voicing disapproval over perceived political interference and the stalling of reforms meant to bolster the broadcaster’s independence.

Dessen ungeachtet ist Österreich ein friedliches, stabiles Land, im „Fragile States Index“ liegt es in der zweitbesten Kategorie (einmal mehr sind Finnland und Norwegen hier die Spitzenreiter, gefolgt von der Schweiz, Dänemark, Island, Neuseeland, Schweden, Luxemburg, Kanada Australien und Irland als die übrigen Länder im besten Bereich). Gut, aber es geht immer besser. Kein Grund zum Zurücklehnen, aber gewiss kein Anlass, von einer Diktatur zu sprechen. „Echte“ Diktaturen sind Machthaber und Länder wie Berdimuhamedow/Turkmenistan, Afewerki/Eritrea, Obiang/Äquatorialguinea (seit 1979 im Amt, die aktuell zweitlängste nicht-monarchische Regierungszeit) Lukaschenko/Belarus (um nur einige zu nennen). Wer Österreich mit diesen Staaten bzw. Diktatoren (implizit, aber doch) auf eine Stufe stellt, verharmlost sie wie nur was. Auch einen Lukaschenko dürfte es wohl wundern, wenn man ihn aller Folter und Verfolgung von Oppositionellen zum Trotz mit Politikern wie Karl Nehammer oder Alexander Van der Bellen auf eine Srufe stellt.

Diktatur und Revolution

Die Rhetorik von der Diktatur ist aus einem weiteren entscheidenden Grund nicht ohne: Schließlich gibt es ein philosophisches und mitunter auch (völker- bzw. menschen)rechtliches Recht auf Widerstand gegen Diktatoren, das sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker gründet:

the right of internal political self-determination is based on a democratic element, which is to be exercised together with the Coventant’s political rights and freedoms … Expressed in the right of internal self-determination are its permanent character, as well as the view that factual recognition of the right of self-determination represents a prerequisite for the enjoyment of other (individual) human rights. Understood in this way, the right of internal political self-determination contains the seeds of a right of revolution against dictatorships that systematically and grossly violate human rights.[3]

Demokratien zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels gewährleisten. Das Schlagwort „Diktatur“ ist dementsprechend behutsam zu verwenden. Es spricht einem Staat die Legitimität ab und „dem Volk“ im Umkehrschluss – jedenfalls in Extremsituationen – das Recht auf Revolution und damit letztlich auch auf Gewalt gegen die Machthaber und den Staatsapparat zu. Und das kann wohl (kaum) jemand wollen. Oder?

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Quellen:

[1] Rainer-Olaf Schultze, ‚Diktatur‘ in: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.), Lexikon der Politikwissenschaft. Band 1 A-M (Verlag C.H. Beck 2004) 151.

[2] Werner J. Patzelt, Einführung in die Politikwissenschaft (Wissenschaftsverlag Richard Rothe 1992), 306.

[3] Manfred Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights (N.P. Engel, 2nd revised edition, 2005), 24.

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