Seit Kurzem wird offener denn je über eine Föderalisierung Syriens diskutiert. Ein angesichts des bisherigen Scheiterns durchaus erfolgsversprechender Ansatz, der schon viel früher hätte ernsthaft diskutiert werden sollen.
Kunstgebilde Staat
Die Staatenwelt ist nicht in Stein gemeißelt. Wie ein Blick auf ältere Landkarten zeigt entstehen immer wieder neue Staaten, bestehende zerfallen oder verlieren einen Teil ihres Gebiets. Gab es unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg noch ungefähr 75 Staaten, zählen die Vereinten Nationen heute 193 Mitglieder, wobei strittige Entitäten (Kosovo) beziehungsweise Sonderfälle (Vatikan) noch hinzukommen. Staaten sind aller mythologischen Erhöhungen zum Trotz immer noch künstliche und folglich wandelbare Konstrukte.
Das gilt insbesondere für jene, deren heutige Existenz auf die Kolonialzeit oder – wie im Falle Syriens – das Ende des Osmanischen Reichs zurückgeht. In der Regel mangelt es hier an Zusammengehörigkeitsgefühl oder einer Regierung, die die Bevölkerung entsprechend abbildet. Was angesichts ihrer multiethnischen und -konfessionellen Zusammensetzung auch äußerst schwierig ist.
Das Konstrukt Syrien
In Syrien etwa herrschte bis zum Ausbruch der Unruhen Ende Februar 2011 die alawitische Minderheit unter Führung Baschar al-Assads beziehungsweise seines Vaters, während die Sunniten den Großteil der Bevölkerungausmachen. Hinzu treten unter anderem Drusen, Schiiten, Jesiden oder Kurden. Zusammengehörigkeit definiert sich also auf unterschiedlichste Art und Weise.
Insofern schreit Syrien auf den ersten Blick regelrecht nach einer Föderalisierung, also der Aufteilung in weitgehend eigenständige und ihren Einwohnern entsprechende Regionen. Wenn unterschiedliche Bevölkerungsgruppen keine hinreichende Einheit bilden, lassen sie sich ansonsten oft nur durch systematische Gewaltanwendung zentralstaatlich zusammenhalten.
Ein Kompromiss?
Eine Föderalisierung könnte auch den unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Großmächte Genüge tun. Das saudische Königshaus drängt auf ein sunnitisches, möglicherweise faktisch abhängiges Regime. Der Iran möchte als großer regionaler Gegenspieler der Saudis seine durch Syrien und die schiitischen Gebiete bis zur Hisbollah verlaufende Achse unbedingt erhalten. Ebenso hat Russland klar gezeigt, dass es den Einfluss in der Region und damit die Marinebasis und den Luftwaffenstützpunkt in Syrien nicht aufgeben wird. Dazu braucht es allerdings nicht das gesamte syrische Staatsgebiet. Dementsprechend kann es Druck auf al-Assad ausüben, einer etwaigen Lösung, die Teile Syriens aus seiner Kontrolle herauslöst, zuzustimmen. Den USA ist an einer Schwächung des Iran gelegen, wobei es von Anfang an der Bereitschaft fehlte, entschieden einzugreifen. Gleiches gilt für Israel, das den Iran und damit einhergehend al-Assad als die größte Bedrohung ansieht (wobei es sich bislang weitgehend, aber nicht vollständig herausgehalten hat). Die Türkei unterstützt den Sturz al-Assads seit 2012, aufgrund des Erstarkens der Kurden arbeitet sie mittlerweile verstärkt an deren Spaltung und geht gegen die syrische YPG vor, die sie als Erweiterung der PKK ansieht.
Ungleich schwieriger lassen sich die Bestrebungen der unübersichtlich vielen Gruppen vor Ort beurteilen. Die vom Westen und den Golfstaaten unterstützten Konfliktparteien jedenfalls schlossen jegliche Regierungsbeteiligung al-Assads, der immer noch als die Wurzel des Konflikts gilt, stets kategorisch aus. Die fundamentalistischen Gruppierungen – allen voran die al-Nusra-Front und der „Islamische Staat“ – scheiden ungeachtet allfälliger militärischer Allianzen mit den unterstützten Kräften als Friedenspartner grundsätzlich aus. Die Kurden wiederum haben sich bereits mehrfach ausdrücklich für eine Föderalisierung Syriens ausgesprochen.
Ein föderales Syrien könnte insofern in der Tat einen erfolgsversprechenden Kompromiss darstellen. Keine Partei (mit Ausnahme der Kurden) würde sich vollends durchsetzen, aber niemand völlig leer ausgehen.
Begründete Einwände
Dennoch gilt der Begriff „Föderalisierung“ vielen als rotes Tuch. Zum einen könnte sie eine Vorstufe zu einem Zerfall Syriens darstellen (der meiner Meinung nach aber nicht grundsätzlich problematisch ist), was auch wegen der Auswirkungen auf andere Sezessionsbestrebungen beziehungsweise Zerfallserscheinungen in der Region Sorgenfalten hervorruft. Zum anderen, und hier liegt der zentrale Einwand, gehen Gebietsaufteilungen zumeist unweigerlich mit Vertreibungen einher. Außerdem wird dadurch die identitätsstiftende Wirkung von Religion oder ethnischer Zugehörigkeit verstärkt oder zumindest bestätigt, womit langfristig tiefe Gräben entstehen könnten.
Einen Versuch ist es mehr als wert
Diese wohlbegründeten Einwände werden durch das bisherige Leid und das völlige Versagen der Diplomatie stark abgeschwächt. Lapidar ausgedrückt: Viel schlimmer kann die Lage nicht werden. Daher ist es mehr als an der Zeit, neue Wege zu gehen. Selbst wenn die Föderalisierung Syriens nicht optimal erscheint, darf man darauf hoffen, dass hier ein Schlüssel zur Beendigung des Konflikts liegen könnte. Sie sollte zumindest ernsthaft versucht werden – umso mehr, als derzeit wie auch in den Jahren davor keine realistischen Gegenvorschläge vorliegen.
Echt eine gute Idee, doch fraglich ob dadurch der Frieden auf längere Sicht zu sichern ist. Der Iran will seine Forderungen genauso wie Assad auf das ganze syrische Staatsgebiet beibehalten. Die Europäer und Amerikaner sind da sicherlich kompromissbereiter. Aber die Lösung führt nun eben auch über Assad. Welche Unterstützerrolle oder Anfechtungen gegenüber die Allmachtbestrebungen Assads Russland einnehmen würde, wird sich zeigen. Eine Gradwanderung für alle …
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