Liberal vs. neoliberal: Die große Begriffsverwirrung

Liberal sind heute viele, neoliberal aber so ziemlich niemand. Ein kleiner Versuch, Ordnung ins Begriffs-Kuddelmuddel zu bringen: Was bedeutet Liberalismus, was heißt Neoliberalismus?

Der Liberalismus hat viele Väter und eigentlich keinen. Man assoziiert ihn mit Namen wie Adam Smith, John Stuart Mill oder John Locke. In der etwas jüngeren Vergangenheit wiederum mit Ludwig von Mises, Friedrich August von Hayek oder auch Murray Newton Rothbard. Um nur einige zu nennen.

Auf das Simpelste heruntergebrochen bedeutet Liberalismus ein die Freiheit des einzelnen garantierendes Gesellschaftsmodell. Bei der Freiheit fängt das Problem schon an, kaum ein Begriff, zu dem es ähnlich viele gänzlich unterschiedliche Auffassungen gibt. Der Liberale versteht sie negativ (siehe dazu Isiah Berlins „Freiheit. Vier Versuche“), also als „Freiheit von“ Willkür, Zwang und Unterdrückung durch andere im Gegensatz zur positiven „Freiheit zu“, die im heutigen Verständnis Anspruchsrechte gegenüber den Staat meint:

„Die Grundbedeutung von Freiheit ist Freiheit von Ketten, von Eingesperrtsein, von Versklavung, durch andere. Nach Freiheit streben heißt Versuchung, Hindernisse aus dem Weg zu räumen; für die eigene Freiheit kämpfen, heißt die Einmischung anderer, die Ausbeutung, die Versklavung durch andere abwenden. Freiheit, jedenfalls in ihrer politischen Bedeutung ist gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Herrschaft, damit, dass man nicht herumkommandiert wird.“[1]

Darauf aufbauend lässt sich der Neoliberalismus auf vom Liberalismus abgrenzen: Zeitlich (daher ja auch das Präfix „neo“) und damit einhergehend hinsichtlich der Rolle des Staates. Der klassische Liberalismus nach John Locke entstand als Gegenentwurf zur gottgegebenen Erbmonarchie im ausgehenden 17. Jahrhundert: Kernmaxime war die Zustimmung der Betroffenen zur staatlichen Herrschaft.

Der Neoliberalismus wird wiederum mit der jüngeren Vergangenheit und den großen sozialen bis wirtschaftlichen Fragen des frühen 20. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. Als geistiger Urvater gilt Ludwig von Mises, der sich in seiner Schrift „Liberalismus“ aus dem Jahr 1927 zum idealen Herrschaftssystem – die Demokratie – äußerte und darüber hinausgehend dem Staat nur eine beschränkte Rolle zusprach: So besteht die „Aufgabe des Staatsapparates einzig und allein darin, die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Sondereigentums gegen gewaltsame Angriffe zu gewährleisten. Alles, was darüber hinausgeht, ist von Übel“ (Ludwig von Mises, Liberalismus, S. 46).

Friedrich August von Hayek zufolge bedeutet Liberalismus jedoch keine Vorherrschaft der Willkür, kein bedingungsloses laissez-faire, denn „eine funktionierende Marktwirtschaft setzt gewisse Tätigkeiten des Staates voraus; manche andere staatliche Tätigkeiten werden ihr Funktionieren unterstützen; und sie kann noch viele andere dulden, vorausgesetzt, dass sie mit einem funktionierenden Markt vereinbar sind.“ Darunter fallen neben dem Gewaltmonopol und der damit einhergehenden Gerichtsbarkeit „die Einführung eines verlässlichen und funktionsfähigen Geldsystems … die Normierung von Gewicht und Maßen; die Bereitstellung von Information durch Vermessung, Grundbücher, Statistiken etc“ und die Schulerziehung, allesamt „Bemühungen, einen günstigen Rahmen für individuelle Entscheidungen zu schaffen.“[2] Hinzu kommen laut von Hayek noch Dienstleistungen, die aufgrund des Trittbrettfahrer-Problems nicht bereitgestellt werden, also sanitäre und allgemeine Maßnahmen zur Erhaltung der öffentlichen Gesundheit (also etwa zur Prävention von Seuchen und dergleichen, nicht aber eine staatliche Krankenversicherung) oder der Straßenbau.[3]

So viel zur Theorie. Die allgemeine Kritik am Neoliberalismus zielt jedoch auf dessen praktische Auswirkungen und Handhabe ab. Zentraler Punkt ist die enge Verzahnung dominanter wirtschaftlicher Akteure (Konzerne, transnationale beziehungsweise multinationale Wirtschaftsunternehmen) mit der Politik. So beschränkt der Staat beziehungsweise, innerhalb Europas die EU, sich in der Praxis nicht auf die Gewährleistung des rechtlichen Rahmens für den freien Markt. Vielmehr wird er durch private Interesse korrumpiert (Stichwort Lobbying), die Privilegien aller Art, von Subventionen über steuerliche Begünstigungen bis hin zu Ausnahmen von allgemeinen Gesetzgebung beziehungsweise ihnen förderliche Gesetze und Regelungen einfordern. Das Postulat des freien Markts entpuppt sich so gesehen als Chimäre:

„… actually existing, as opposed to ideologically pure, neoliberalism is nothing like as devoted to free markets as it is claimed. It is, rather, devoted to the dominance of public life by the giant corporation. The confrontation between the market and the state that seems to dominate political conflict in many societies conceals the existence of this third force, which is more potent than either and tranfsroms the workings of both.”[4]

Der Liberalismus ist heute über weite Strecken zum inhaltsleeren Wieselwort verkommen; Freiheit von Willkür und zu weitgehenden staatlichen Eingriffen wird jedenfalls in rechtsstaatlich organisierten Demokratien von den meisten nicht mehr als grundsätzliches Problem wahrgenommen. Wer sich als liberal bezeichnet, meint damit oft bei genauerer Betrachtung „anti-autoritär.“ Der Neoliberalismus wiederum stellt auf die Kernaufgaben des Staates – die Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit und Eigentumsrechten – ab und räumt dem Staat im Wirtschaftsleben nur eine beschränkte und neutrale Funktion ein. In der Praxis besteht jedoch eine unheilige Allianz mit dem Großkapital beziehungsweise Konzernen, wodurch er als Machtinstrument korrumpiert wird: Und genau darauf beziehen sich weite Teile der Kritik am Neoliberalismus.

 

Fußnoten:

[1] Isiah Berlin, Freiheit. Vier Versuche (Fischer 1995), 332.

[2] Friedrich August von Hayek, Die Verfassung der Freiheit (3. Auflage, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1991), 288.

[3] Ibid., 289.

[4] Colin Crouch, The Strange Non-Death of Neoliberalism (polity 2011), viii.

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