Das Kissinger-Problem

Henry Kissinger wurde dieser Tage 100 Jahre alt. Heute ist er zu Besuch in seiner Geburtsstadt Fürth (Deutschland). Der Umgang mit ihm sagt viel über den Westen aus.

Zahlreiche aktuelle und ehemalige Staats- oder Regierungschefs haben Henry Kissinger gratuliert, als wäre nie etwas gewesen. Als hätte er bei der Bombardierung von Kambodscha keine wesentliche Rolle gespielt, als hätte er nicht auf den Putsch in Chile gedrängt, als hätte er Pinochet trotz seiner massiven Menschenrechtsverletzungen nicht seine Unterstützung zugesichert, als hätte er nicht das Apartheid-Regime in Südafrika diplomatisch aufgewertet und und und (siehe diesen Beitrag im Guardian oder diesen in The Nation).

Zu den Gratulanten gehörten übrigens auch Karl Nehammer und Christian Kern (letzterer hat kein Foto gepostet, es gibt auch keine Berichte über das Treffen. Vielleicht waren sie auch nur im selben Raum). Wieso man als (ehemaliger oder gegenwärtiger) Vertreter Österreichs so unkritisch von der Ehre spricht, ihn getroffen zu haben, verstehe ich nicht. Vielleicht will man als Politiker im kleinen Österreich wenigstens ab und zu ein wenig größer fühlen. Aber dazu gibt es sicher bessere Mittel und Wege.

Abgesehen vom kleinen Österreich hat aber der gesamte Westen eine Art Kissinger-Problem. Weil Kissinger für vieles steht, für vergangene Fehler (siehe oben) und, aus heutiger Sicht, noch viel mehr mit der fehlenden Aufarbeitung und kritischen Selbstreflexion.

Das ist ein Bumerang, der bei der Ukraine voll durchschlägt. Weil viele im „globalen Süden“ oder auch innerhalb des Westens darauf hinweisen, dass er – ob NATO, ob USA – ebenso Menschenrechte und Völkerrecht verletzt hat.

Eigene Fehler in anderen Regionen relativieren oder legitimieren Russlands Aggression natürlich in keiner wie auch immer gearteten Weise. Wohl aber machen sie es schwieriger, Vertreter aus anderen Ländern vom eigenen Vorgehen zu überzeugen. Weltpolitik gibt wenig auf tu quoque-Widerlegungen (also dass vergangenes eigenes Unrecht gegenwärtiges Unrecht durch andere nicht rechtfertigt) oder Differenzierungen („Notwendigkeiten des Kalten Krieges“). Alleine deswegen sollte man Kissingers Geburtstag vielleicht einfach ignorieren. Oder zumindest eine lange Fußnote anbringen.

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