Gelesenes (#11)

Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege; Lisa Taddeo, Three Women; Pieter M Judson, The Habsburg Empire; Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism; Joseph Roth, Radetzkymarsch; Ben Rhodes, The World as it is; Byung-Chul Han, Vom Verschwinden der Rituale: Eine Topologie der Gegenwart; Byung-Chul Han, Kapitalismus und Todestrieb.

Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege (Suhrkamp 2017)

Nach Eribons Rückkehr nach Reims, das ich schon an dieser Stelle rezensiert habe, war Hunger nach mehr da. Hunger, der befriedigt wurde: Satt geworden bin ich, geschmeckt hat es aber nicht mehr ganz so gut. Wie auch, das Thema hat sich nach dem ersten Mal einfach ein wenig abgenutzt – selbst für jene, die sich in Eribons Biographie und seinen Ausführungen wiederfinden. Was freilich nichts daran ändert, dass man sich ihm, wie das untere Zitat, vor allem der letzte Teil davon, als Arbeiterkind doch gar verbunden fühlen kann.

[die städtischen Bürgerfamilien] kennen sich aus in der Welt und geben dies in den typisch eloquenten Sätzen, die sie in ihre Alltagsgespräche einzustreuen pflegen, zu erkennen: „Eine Cousine meiner Mutter wohnte in …“, „Ein Studienkollege meines Vaters war…“ Überall sind sie in ihrem Element, denn sie sind überall zu Hause (sogar bei den Armen). Das ist kein persönlicher Vorwurf. Politisch können sie – das ist selten, kommt aber vor – durchaus links sein, sie können Ungerechtigkeit und Unterdrückung hassen und gegen die Verheerungen des Kapitalismus kämpfen. Trotzdem tragen sie tief in ihrem Inneren ein bürgerliches Ethos, das gewisse Reaktionen und Aussagen hervorbringt. Wenn man als Kind seine Ferien im Landbesitz der Großeltern verbringt, wenn man übers Wochenende ins Landhaus der Eltern oder Geschwister fährt, resultiert daraus ein anderer Selbstbezug, ein anderer Bezug zur Welt und zu den anderen, als wenn man eine Kindheit ohne Ferien erlebt oder wenn man die Ferien im Ferienlager, mit den Eltern auf dem Campingplatz oder im Wohnmobil verbracht hat. Ein berühmtes Gymnasium, eine Grand École besucht zu haben, von jeder Person, die einen Namen hat oder in irgendeinem Bereich eine wichtige Rolle ausfüllt, sagen zu können, man sei mit ihr auf dem Gymnasium, in einer classe préparatoire, an Sciences Po, an der ENA, ENS oder einer ähnlichen Kaderschmiede gewesen: der Korpsgeist, den all das mit sich bringt und der eine Art berufs- und lagerübergreifende Klassensolidarität begründet, ein Geist, der umso effizienter ist, als er gar nicht eigens formuliert und ausgedrückt werden muss, weil er für die Bürgerlichen so etwas wie eine zweite (oder eigentlich ihre erste) Haut darstellt – unbestreitbar, dass all das eine tiefe, definitive Kluft zwischen denen herstellt, die diese Privilegien genießen, und denen, die irgendwo anders, an anderen Orten der sozialen Welt geboren wurden. Für alle, die in dieser beherrschten Welt geblieben sind, existiert diese Kluft zweifellos. Sie existiert aber auch für diejenigen, die es – mehr oder weniger – in Berufe geschafft haben, in denen sie den Sphären der Herrschenden etwas näher sind (oder zumindest von den Sphären der Beherrschten etwas weiter entfernt). Sie verfügen nicht über das soziale Kapital der Privilegierten, sie beherrschen nicht die notwendigen Codes. Dieser Unterschied spielt in den Details des beruflichen und privaten Lebens eine wichtige Rolle. Man fühlt sich unwohl, wenn man in einem bürgerlichen Haus zu Gast ist, man weiß nicht, wie man im Restaurant mit dem Besteck umzugehen hat, man ignoriert die passenden Redeweisen in bestimmten Situationen usw.

Lisa Taddeo, Three Women (2019)

Ich lese immer noch zu wenige Romane und erst Recht zu wenig Romane von Frauen. Dieser hier wurde mir besonders eng ans Herz gelegt, zumal es auf Nummer 1 der New York Times Bestseller List eingestiegen ist: So scheint es Lisa Taddeo, jedenfalls dem Vorwort nach, darum zu gehen, eine weibliche Sicht auf Sexualität zu geben. So zeigt sie die Perspektive von drei Frauen auf unterschiedliche (reale) sexuelle und beziehungstechnische Situationen: Die Biographie einer Frau mit einer Essstörung, die mit ihrem Partner Promiskuität auslebt; eine Frau, die sich Jahre später mit ihrer ehemaligen Jugendliebe verkehrt, die sie allerdings nur auszunützen scheint. Und ein Mädchen, das mit ihrem Lehrer eine Art Beziehung beginnt und letztlich daran zerbricht (ein Fall, der in den USA für viel Aufsehen gesorgt hat). Die große Stärke des Buchs ist zugleich seine große Schwäche: Als Mann bekommt man den Blick des Gegenübers. Gleichzeitig sind alle drei Frauen auf die ein oder andere Art Opfer beziehungsweise zur Passivität verdammt, von der Pauschalisierung ganz abgesehen. Dennoch ein auf seine Art und Weise lesenswertes, weil (zumindest für mich) ungewohntes Buch – vor allem für Männer, die ihre Rolle als „Täter“ gerne vor sich selbst verheimlichen.

While I never had occasion to wonder about my father’s desire, something in the force of it, in the force all male desire, captivated me. Men did not merely want. Man needed. The man who followed my mother to and from work every day needed to do so. Presidents forfeit glory for blow jobs. Everything a man takes a lifetime to build he may gamble for a moment. I have never entirely subscribed to the theory that powerful men have such outsize egoes that they cannot suppose they will ever be caught; rather, I think that the desire is so strong in the instant that everything else – family, home, career – melts down into a little liquid cooler and thinner than semen. Into nothing. …

Throughout history, men have broken women’s hearts in a particular way. They love them or half-love them and then grow weary and spend weeks and months extricating themselves soundlessly, pulling their tails back into their doorways, drying themselves off, and never calling again. Meanwhile, women wait. The more in love they are and the fewer options they have, the longer they wait, hoping that he will return with a smashed phone, with a smashed face, and say, I’m sorry, I was buried alive and the only thing I thought of was you, and feared that you would think I’d forsaken you when the truth is only that I lost your number, it was stolen from me by the men who buried me alive, and I’ve spent three years looking in phone books and now I have found you. I didn’t disappear, everything I felt didn’t just leave. You were right to know what would be cruel, unconscionable, impossible. Marry me.

Pieter M. Judson, The Habsburg Empire (2018)

Die Habsburger sind so ein Thema, über das Außenstehende – also Nicht-Österreicher und auch niemand aus einem ehemaligen Kronland – vielleicht besser, jedenfalls aber unaufgeregter schreiben können. Judsons detailreiches Buch räumt mit dem Mythos des „Völkerkerkers“ auf und zeigt, dass es sich beim Nationalismus der unterschiedlichen Gebiete zunächst um ein Elitenprojekt handelte. Umgekehrt schlossen der Imperium und Nationalismus einander nicht aus, vielmehr ergänz(t)en sie einander – eine These, die das Habsburgerreich für einen Vorläufer heutiger vielschichtiger Identitäten und -politiken macht. Die einen mögen sein Bild der Monarchie für verklärt halten, für mich war es es erfrischend, zumal er mit einigen nachträglich von dezidiert nationalistischen Historikern geprägten Mythen aufräumt.

By the beginning of the twentieth century ideologies of nationalism and of empire increasingly depended on each other for coherence. Far from constituting opposed or binary concepts and political projects (as they are usually understood to be), „nationhood“ and „empire“ both depended on each other for their explanatory coherence. The two made use of similar language and similar ideas. Propagandists for empire increasingly deployed national concepts in their publications and exhibitions, and this should also signal to us the extent to which nationalist discourse had already become a capacious if empty or nonspecific vessel capable of accommodating a broad range of ideas, programs, and visions, many of which served imperial projects as well. The imperial administrators who founded museums of culture and folklore encouraged archeological and anthropological projects in ways that strongly resembled the folklorist efforts of earlier nationalist generations. Their purpose, however, was not to encourage nationalist sectarianism, but to tie local nationalism to imperial loyalties.

Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism (2018)

Die Art von Buch, die man schon vorm Fertiglesen empfehlen darf. Umfangreich, durchaus. Aber das ist notwendig bei dem Thema. Zuboffs Buch ist sowas wie das Standardwerk zu Big Data, den großen Online-Konzernen von Amazon über Apple bis hin zu Facebook, und was (deren) Algorithmen und ihre Marktlogik mit uns machen. Die großen Versprechen aus der Frühphase des Internets sind heute dystopischen Ideen des allmächtigen Algorithmus zwecks Profitmaximierung mit demokratiegefährdenden Auswüchsen (die Menschen zu errechenbaren Massentieren degradieren) gewichen, dem sich kaum jemand entziehen kann: Zuboff ist kein Feind der Technik – wohl aber tritt sie dafür ein, dass sie uns dient, nicht umgekehrt.

… it is not OK to have our best instincs for connection, empathy, and information exploited by a draconian quid pro quo that holds these goods hostage to the pervasive strip search of our lives. It is not OK for every move, emotion, utterance, and desire to be catalogued, manipulated, and then used to surreptitiously herd us through the future tense for the sake of someone else’s profit … If democracy is to be replenished in the coming decades, it is up to us to rekindle the sense of outrage and loss over what is being taken from us. In this I do not mean only our „personal information.“ What is at stake here is the human expectation of sovereignty over one’s own life and authorship of one’s own experience…That surveillance capitalism has usurped so many of our tights in these domains is so scandalous abuse of digital capabilities and their once grand promise to democratize knowledge and meet our thwarted needs for effective life. Let there be a digital future, but let it be a human future first.

Joseph Roth, Radetzkymarsch

Ein Klassiker. Manchmal dürfen es die Klassiker sein. Vor allem dann, wenn man ein leicht verklärtes Bild von der Monarchie hat. Mit dem Roth ja aufräumt, wenn er anhand der Familienbiographie mit einem Helden, der den Kaiser in Solferino vor dem Tod gerettet hat, am Anfang und einem spielsüchtigen Verschwender am Ende. Ein Meisterwerk, für das es nie zu spät ist.

Der Kaiser war ein alter Mann. Er war der älteste Kaiser der Welt. Rings um ihn wandelte der Tod im Kreis, im Kreis und mähte und mähte. Schon war das ganze Feld leer, nur der Kaiser, wie ein vergessener silberner Halm, stand noch da und wartete. Seine hellen und harten Augen sahen seit vielen Jahren verloren in eine verlorene Ferne. Sein Schädel war kahl wie eine gewölbte Wüste. Sein Backenbart war weiß wie ein Flügelpaar aus Schnee. Die Runzeln in seinem Angesicht war ein verworrenes Gestrüpp, darin hausten die Jahrzehnte. … Er sah die Sonne in seinem Reiche untergehen, aber er sagte nichts.

Ben Rhodes, The World as it is. A Memoir of the Obama White House (2018)

Näher werden die meisten von uns einem US-Präsidenten wohl nicht kommen. Ben Rhodes war Obamas Redenschreiber, er beschreibt seine Zusammenarbeit mitsamt vielen Hintergründen des Wirkens eines US-Präsidenten: Jetzt wissen wir, dass (zumindest damals) auch die Regierung Skype-Gespräche führt oder es schon vorkommen kann, dass Obama einen mit schelmischen Sprüchen aufweckt. Egal, ob alles wahr ist oder ob Dinge unterschlagen wurden: Ein gefühlt-hautnaher Einblick, von der Tötung des US-Botschafters in Bengasi über die geheime Anbahnung der Annäherung an Kuba über die schwierige Beziehung zu Putin oder Netanyahu bis hin zum permanenten Druck der Republikaner, denen jedes Mittel recht ist, um ihren Feind im weißen Haus zu diskreditieren. Nur die Drohnenangriffe auf Terroristen in Pakistan haben keinen Platz gefunden. Dennoch eine unbedingte Leseempfehlung für jeden mit Interesse an US-(Außen-)politik.

My final note was on Obama. We had this debate, over the years, about whether individuals or social movements shape history—the kind of casual, esoteric conversation that filled in downtime in cars, helicopters, airplanes, or the quiet of the Oval Office. I had been on the side of social movements, dating back to the early days of the Arab Spring. „I was wrong,“ I told him in my message. „You’ve made a difference in the lives of billions of people. […] Billions of people around the globe had come to know Barack Obama, had heard his words, had watched his speeches, and, in some unknowable bur irreducible way, had come to see the world as a place that could—in some incremental way—change. The arc of history. How had his presence altered the direction of these individual human beings and the larger forces they touched; the lives they would lead; the stories they would tell? I was just one human being in this expanse

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