Burka, Niqab (als ob irgendwer hinreichend unterscheiden würde) und Burkini erhitzen aktuell die Gemüter. Der Stoff geht unter die westliche Haut: Weil er unsere ganz persönliche Krise mit uns selbst, von der Gesellschaft bis zum Individuum, offenlegt. Wer sind wir, was wollen wir und was hat der einzelne damit zu tun?
Im Schatten des Islams sind Schlagworte wie Gleichberechtigung, Toleranz, Demokratie oder Freiheit im diskursiven Boxring aktuell omnipräsenter denn je. Umso näher liegt die Vermutung, dass keiner weiß, ja nicht einmal wissen will, was genau sich dahinter verbirgt. Und, damit zusammenhängend, ob wir überhaupt noch daran glauben. Ja, mehr noch, wer sind wir überhaupt?
Die soeben genannten Begriffe sind ja so etwas wie die Sakrimente westlicher Gesellschaften. So gerne sie auch genannt werden, eine nähere Auseinandersetzung unterbleibt. Teils, weil unter der polierten Oberfläche wenig Gehalt wartet, teils, weil meta, also das Denken übers Denken in Zeiten des hyperventilierenden Wettbewerbs um Aufmerksamkeit und der entsprechend kurzen -spanne ohnehin etwa so interessant erscheint wie Sommercurling.
Wer nicht weiß, wovon er spricht, kann auch nicht daran glauben. Umso sensibler reagiert er jedoch, wenn jemand seinen Glauben infrage stellt.
Also einfach „let’s agree to disagree“ bei den großen Fragen. Mehr als einen gewissen nichtssagenden Minimalkonsens (Gleichberechtigung: Frauen sollen nicht an den Herd, Toleranz: wir verbieten den Islam nicht, Demokratie: Diktaturen sind böse, Freiheit: fängt da an, wo die des anderen aufhört) gibt es nicht. Dafür fliehen wir ins Kleine, könnten und können wir uns in Detailfragen verbal duellieren wie Rocky Balboa mit seinen großen Widersachern von Apollo Creed über Clubber Lang bis hin zu Ivan Drago (soll heißen offener Schlagabtausch über 12 Runden und ohne Deckung; wie langweilig ist echtes Boxen dagegen). Genau deswegen hat jeder eine Meinung zu Burka und Niqab und ja, ich habe so lange gebraucht, sie erstmals zu erwähnen (sie werden auch in den nachfolgenden Zeilen kaum Beachtung finden und nach diesem Absatz sollte hoffentlich klar sein, wieso).
Angst vor den Antworten, vielleicht sogar noch mehr, vor der Abwesenheit von eben jenen. Wie viele der großen Staatsmänner und -frauen, in den Parteien und Medien, aber auch innerhalb der breiten Wählermasse sind tolerante Demokraten durch und durch, wie viele würden den bestehenden status quo verteidigen beziehungsweise wie weit würden sie dabei gehen?
Der Kampf um die Demokratie soll begonnen haben (laut der Zeit)? Ich wage zu behaupten, dass er schon anno 1989 verloren war. Man hat es nur nicht gemerkt, weil der Gegner weggefallen ist. Ich spüre eher eine kollektive Sinnkrise, da die modernen (Ersatz-)Götzen für sich genommen nicht als gesellschaftliche Eckpfeiler ausreichen. Bei fundamentalen Bedrohungen, ob von außen oder von innen, könnte das Holz sich als äußerst morsch erweisen. Genau deshalb fehlt es an Antworten im Umgang mit Gegenentwürfen wie dem politischen Islam, die großen Anathemen, wie weit die Toleranz Intoleranz akzeptieren soll, die Freiheit mit Unfreiheit umgehen kann, bleiben offen.
Denn die Segnungen der Moderne kommen, wie alles seit Yin und Yang oder Plotin, mit ihren Schattenseiten. Nanona. Freiheit bringt Unsicherheit und das diffuse Gefühl des Verlorenseins; so viele Möglichkeiten, ob tatsächlich oder bloß scheinbar, so viele Lebensentwürfe. Wohin geht man und mit wem? Individualismus kann Spuren von Einsamkeit beinhalten: Fritz Riemann schrieb zu Beginn seines Klassikers „Grundformen der Angst“ vom großen Zwiespalt, einerseits danach zu streben, möglichst besonders und einzigartig zu sein und andererseits, aus der großen Sorge vor Einsamkeit, den Bezug zu einer größeren Gruppe beibehalten zu wollen. It gets lonely at the top und niemand will lonely sein. Aber Mittelklassenmensch mit 9 to 5 job klingt für die Generationen ohne Eigenschaften („ich habe ein außerordentliches Talent, ich weiß nur nicht, welches!“, um Musils Mann ohne Eigenschaften zu paraphrasieren) auch nicht sonderlich erstrebenswert. Kollektivistische Staaten und Gesellschaften, ob aus dem arabischen Raum oder aus Fernost, spielen nicht umsonst seit jeher schöne Töne auf der Orgel des vermeintlichen Wohlgefühls, das die Einbettung in einen festen Familienverband oder ein nationales Kollektiv verspricht.
Dazu die große Leere, die die Losung vom toten Gott hinterlassen hat. Und die gefüllt werden will. Der Religiöse zweifelt an seinem Gott, der Agnostiker oder Atheist hat nicht einmal den. Also eben die oben genannten Ersatzgötzen, die jedoch gar nicht dazu gedacht sind, diesen großen Platz einzunehmen. Das Mittel lässt sich hier nicht zum Zweck machen, Demokratie und Co. sind keine Religionen und sollen es auch nicht sein. Genau an dieser Schnittstelle könnte die Lücke im Denken des Einzelnen mit der gesellschaftlichen korrespondieren. Also sucht man weiter und da bietet sich im Bazar der Dauerablenkungen neben kleineren (ich bin überrascht, wie viele meiner Bekannten Interesse an Schamanismus haben) und größeren Ablenkungen eben der Dauerdiskurs über Details aller Art an. Also zurück zu Niqab und Burka, aber nicht, um sie als Anlass zu nehmen, über uns zu sprechen, sondern über sie. Die anderen, der Islam (als ob es nur einen gäbe) und seine Eigenschaften, die viele zurückweisen und dabei insgeheim doch herbeisehnen (wenn auch in überromantisierender Form, keine Frage): Die Unterwerfung (ja, Houellebecq, aber ähnliches lesen wir ja auch zB bei Tariq Ramadan), die viele der modernen Lasten abnimmt. Also das alte Motiv, das wir schon in Dostojewskis Karamasow-Brüdern finden: Die Menschen wollen keine Freiheit, nicht einmal bezeihungsweise schon gar nicht geschenkt, sondern Brot. Die Behaglichkeit großer Familienverbände, die einen im Spital besuchen. Sitten, Strukturen, Loyalität und, durchaus heikel, Ehre.
Mitunter extrapoliere ich. Vielleicht funktionieren die Institutionen auch ohne den bedingungslosen, ja selbst ohne starken Glauben daran. Und sei es aus Mangel an Alternativen. Vielleicht ist die Strahlkraft der Moderne zwar schwächer als angenommen (spätestens seit dem Irakkrieg 2003 und den Folgejahren weiß jeder, dass der Rest der Welt nicht danach giert, möglichst schnell möglichst westlich zu werden), aber immer noch stark genug.
Wie dem auch sei: Das Unausgesprochene rund um die Diskussionen bezüglich Burka und Niqab sagen viel über uns aus. Will man schon ins Metaphysische abgleiten, sollte die westliche Gesellschaft sich auf die Therapeutencouch bewegen. Die entscheidenden Fragen liegen im Inneren begraben. So wie die Sache sich derzeit entwickelt, liegt das Hauptproblem eher bei „uns.“ Wer auch immer wir eigentlich sind und sein wollen: Wenn nicht einmal der Westen selbst an sich und seine großen Ideen glaubt, werden andere es umso weniger tun.