Und jährlich grüßt Silvester. Am Ende. Und am Anfang. Nach Geburtstag und Weihnachten die letzte aus dem Trias der immer wiederkehrenden Routinen. Die Fragen bleiben dieselben: Wo war man an diesem Tag schon, wer war da, wo ist man jetzt und mit wem wird man wo sein?
Zeit und Silvester
Wie man Silvester wahrnimmt hängt auch davon ab, wie man mit der Zeit umgeht (siehe dazu vor allem Zimbardo/Boyd, The Time Paradox: Wer Selbsttests mag, wird hier fündig): Manche blicken viel zurück, andere leben im Moment, wieder andere sind vorwärtsgewandt. Dabei kann der jeweilige Zeitzugang belasten oder Energie geben. Wer kennt sie nicht, die Melancholiker, die im gestern leben, das so ohnehin nie da war. Oder umgekehrt jene, die mit voller Kraft auf ein oder mehrere Ziele hinarbeiten. Und natürlich die Traumtänzer mit kurzen Aufmerksamkeitsspannen beziehungsweise solche, die aktiv versuchen, möglichst intensiv im Moment zu Leben (als Teil vom awareness (Achtsamkeit)-Hype). Und, as usual, die unzähligen Mischtypen. Die meisten Menschen haben nicht nur einen Zugang zur Zeit, Extremformen freilich ausgeschlossen.
Was war, was ist, was wird
So kann man gerade Silvester unterschiedlich wahrnehmen. Auf die vergangenen wehmütig oder zufrieden zurückblicken. Wo war man, wie hat man gefeiert, was hat man gearbeitet, hat man gearbeitet oder nach Arbeit gesucht, noch studiert, eine sonstige Ausbildung gemacht? Mit wem hat man Silvester gefeiert, zumal es typischerweise die einem am nächsten stehenden Menschen sind? Wer hat einem geschrieben, wem hat man geschrieben, wer hat angerufen, wen hat man angerufen?
Manche sind aus den Feierlichkeiten ausgeschieden. Die übliche Silvesterparty wird nicht mehr veranstaltet, weil mit einem Male ein Kind da ist, das sich (noch) wenig um den Jahreswechsel schert und wenig Interesse an betrunkenen bis überlauten, bisweilen rauchenden und sonstiges anstellenden Gästen hat.
Andere sind einfach nicht mehr Bestandteile des eigenen Lebens. Beziehungen, ob Partnerschaften oder Freundschaften, sind zerbrochen, liegen vielleicht aber auch nur auf Eis, um irgendwann einmal wieder aufzutauen.
Was uns zum gegenwärtigen Silvester führt. Euphorie, Überschwang, gemeinsames Countdown-Zählen, Silvester-Bussis und Walzer. Kurzes kollektives Verharren im Moment. Neue Menschen sind da, die man letztes Jahr noch nicht kannte oder die einem jedenfalls noch nicht so nahe standen. „I know way too many people here right now / That I didn’t know last year […] I swear it feels like the last few nights. We’ve been everywhere and back but I just can’t remember it all“ kann man bei Drake (Over) hören.
Und dann das, was kommt. „Wo sehen sie sich in einem Jahr?“ fragt der potentielle Lebensarbeitgeber. Wer kommt? Wer wird nächstes Jahr mit einem von zehn herunterzählen und wo? Wer wird nicht mehr da sein?
Routinisierter Neuanfang
Silvester ist ein kollektiv-mythologisierter Neuanfang. Auf Grundlage der Vermessung des Istzustands werden Vorsätze gefasst und Pläne formuliert. Nicht notwendigerweise ein Radikalumbau, aber zumindest Korrekturen. Dort ein paar Lebensschrauben fester drehen, da eine Lebensscharniere ölen. Vielleicht etwas Neues einbauen und ein störendes Teil ausbauen oder es zumindest so mit dem Rest des Lebensbaukastens vernetzen, dass es wenig(er) Schaden anrichtet. Lebens-Feintuning.