Türkischer EU-Betritt: Leichtes Spiel für Kurz

Die EU hält weiterhin an den Beitrittsgesprächen mit der Türkei fest. Eine Position, die sich der Öffentlichkeit mittlerweile kaum noch vermitteln lässt. Eine Steilvorlage für Sebastian Kurz.

Mit dem Umbau der Türkei durch Erdogan lässt sich der Status als Beitrittskandidat immer schwieriger aufrechterhalten. Erste Kritik daran wurde bereits im Zuge der Gezi-Park-Proteste laut, spätestens mit der politischen Säuberung nach dem Putschversuch und dem jüngsten Referendum herrscht in der Bevölkerung nur noch Verwunderung. Die Türkei ist meilenweit davon entfernt, die Kopenhagener (Beitritts-)Kriterien zu erfüllen und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie sich wieder dorthin bewegen könnte.

Warum kein Abbruch?

Dennoch steht Sebastian Kurz mit seinem Türkeikurs alleine da, der Rest der EU hält am Kandidatenstatus fest. Zum einen will man auch den letzten Rest von potentiellem Einfluss bewahren (ob es einen solchen gibt, ist freilich mehr als fraglich). Zum anderen sind die eher symbolischen Verhandlungen ein Zeichen dafür, dass die EU und die Türkei einander immer noch als Partner sehen (auch das darf man insbesondere nach den Drohungen, Flüchtlinge in Busse zu setzen oder nach diversen Aussagen im Zuge des Referendums infrage stellen). Die Türkei braucht die EU wirtschaftlich, die EU die die Türkei als Türsteher in der Flüchtlingskrise Außerdem könnte Erdogan einen Abbruch von Seiten der EU geschickt für sich verwerten: „Seht her, die EU (die in der Türkei schon lange als „Christenklub“ firmiert) will uns nicht. Sie haben uns jahrelang angelogen und hingehalten. Sie wollen keine starke und selbstbewusste Türkei.“ Solange die EU das nicht tut, steckt er in der Zwickmühle, ein türkischer Abbruch könnte sich bei fortschreiten der türkischen Wirtschaftsmisere als Bumerang erweisen.

Daneben gibt es wohl auch ganz banal-menschliche Gründe. Der Hobbypsychologe in mir vermutet hier einen Fall von sunk (political) costs: Nach all den Jahren kann man es doch nicht einfach so lassen, schade um das Geld und all die Bemühungen (eine freilich irrationale Sichtweise: eigentlich sollte man Entscheidungen auf Grundlage des Istzustandes treffen, bereits verlorene Anstrengungen und finanzielle Mittel bekommt man ohnehin nicht mehr zurück).

Eine Gelegenheit für Kurz

Außen- und Innenpolitik gehorchen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Dennoch lassen sie sich nicht komplett trennen. Wenn das außenpolitische Gebärden sich allzu weit von der Wählerschaft entfernt, entsteht eine Lücke. Ungeachtet dessen, ob Sebastian Kurz einem taktischen Kalkül folgt oder (soll ja vorkommen) seine ehrliche politische Meinung vertritt, bietet die EU-weite Haltung zur Türkei Sebastian Kurz daher eine willkommene Bühne. Die EU-Regierungen leisten bereits jetzt Wahlkampfhilfe. Die Politik hat sich in dieser Frage schon lange von weiten Teilen der Bevölkerung entfremdet, die ihre Haltung nicht (mehr) versteht.

Sebastian Kurz kann so als vereinsamte Stumme der Vernunft auftreten. Dabei kann er nur gewinnen: Entweder er bleibt der einzige (beziehungsweise einer von wenigen) Spitzenpolitiker, der offensiv Stellung gegen Erdogans Türkei bezieht. Oder die EU folgt ihm eines Tages dann doch (eventuell, wenn Erdogan ernst macht und tatsächlich die Todesstrafe wiedereinführt) und er gilt einmal mehr als Vorreiter.

 

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