Demokratie bedeutet Identität von Führer und Geführten, von Subjekt und Objekt der Herrschaft, bedeutet Herrschaft des Volkes über das Volk. Allein was ist dieses „Volk“?
[…] Von nationalen, religiösen und wirtschaftlichen Gegensätzen gespalten, stellt es – seinem soziologischen Befunde nach – eher ein Bündel von Gruppen als eine zusammenhängende Masse eines und desselben Aggregatszustandes dar. Nur in einem n o r m a t i v e n Sinne kann hier von einer Einheit die Rede sein. Denn als Übereinstimmung des Denkens, Fühlens und Wollens, als Solidarität der Interesse n ist die Einheit des Volkes ein ethisch-politisches P o s t u l a t, das die nationale oder staatliche Ideologie mit Hilfe einer allerdings ganz allgemein gebrauchten und daher schon gar nicht mehr überprüften Fiktion real setzt. Es ist im Grunde nur ein j u r i s t i s c h e r Tatbestand, der sich als Volkseinheit einigermaßen umschreiben lässt: Die Einheit der das Verhalten der normunterworfenen Menschen regelnden s t a a t l i c h e n R e c h t s o r d n u n g. In ihr konstituiert sich – als Inhalt der die Ordnung bildenden Rechtsnormen – die Einheit der Vielheit menschlicher Handlungen, die das „Volk“ als Element des Staates, als einer spezifischen sozialen Ordnung, darstellt. Als solche Einheit ist das „Volk“ gar nicht – wie die naive Vorstellung vermeint – ein Inbegriff, ein Konglomerat gleichsam von Menschen, sondern nur ein System von einzelmenschlichen Akten, die durch die staatliche Rechtsordnung bestimmt sind. Denn niemals gehör der Mensch a l s g a n z e s, d.h. mit allen seinen Funktionen, nach allen Richtungen seines seelischen und körperlichen Lebens zur sozialen Gemeinschaft; auch nicht zu jener, die ihn am stärksten ergreift, zum Staate. […]
stets muss sich eine gewisse s t a a t s f r e i e Sphäre des Menschen erhalten. Darum ist es eine Fiktion, wenn sich die durh die staatliche Rechtsordnung konstituierte Einheit einer Vielheit einzelmenschlicher Akte, indem sie sich als „Volk“ bezeichnet […]
Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (Scientia Verlag Aalen, 1929/1963), 14-16