Ein paar Erläuterungen zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern (hoffentlich bereue ich das nicht; das Thema ist heikel genug): Ist Palästina ein Staat, Israel Besatzungsmacht, wer hat das Recht auf Selbstverteidigung und wo sind seine Grenzen, darf man zivile Gebäude zerstören und was sagt Österreichs Neutralität dazu, wenn Sebastian Kurz und Außenminister Schallenberg auf ihren Amtsgebäuden eine Israelfahne hissen?
1.) Die Grundsatzfrage: Palästina als Staat?
First things first: Auch wenn zahlreiche arabische Länder Israel nicht anerkannt haben, ist es unzweifelhaft ein Staat: UN-Mitglied (nur Staaten dürfen den Vereinten Nationen beitreten) und die drei rechtlichen Kriterien nach Georg Jellinek – Staatsgebiet, Staatsgewalt, Staatsvolk – sind erfüllt. Dass es mit keinem einzigen seiner Nachbarn eine eindeutige und beidseitig anerkannte Grenze hat, ist dabei unerheblich: was zählt, ist die Kontrolle über das Kerngebiet, Gebietsstreitigkeiten mit Staaten sind für die Eigenschaft als Staat ebenso unerheblich wie die ungelöste Frage der Grenzziehung zu den Palästinensergebieten.
Bei Palästina ist die Sache ungleich umstrittener: Zwar hat die „Palästinensische Befreiungsorganisation“ (PLO) als Vertretung der Palästinenser unter Jassir Arafat bereits 1988 einen Staat ausgerufen, der mittlerweile von 138 anderen Ländern anerkannt wird (siehe auch hier). Insofern ist Palästina in den Augen dieser Länder ein Staat und gleichzeitig für Länder wie die USA, Deutschland oder Österreich, die es nie anerkannt haben, nicht.
Darüber hinaus ist Palästina wichtigen völkerrechtlichen Verträgen (etwa den Genfer Konventionen) und Internationalen Organisationen beigetreten (etwa der UNESCO, was zum Austritt der USA und Israels geführt hat, oder dem Internationalen Strafgerichtshof, der daher für völkerrechtliche Verbrechen in Palästina zuständig sein kann und bereits mit Ermittlungen befasst ist). Außerdem hat es bei den Vereinten Nationen den Status als Non-Member State (wie auch der Heilige Stuhl). Die 2011 beantragte Aufnahme bei den Vereinten Nationen scheitert allerdings am beharrlichen Veto der USA im Sicherheitsrat (dessen Zustimmung für den Beitritt gemäß Artikel 4 UN-Charter notwendig ist), die damit die Interessen Israels schützen.
Das alleine reicht jedoch nicht, um als Staat zu gelten. Anerkennung bestätigt nur bereits bestehende Staatlichkeit (zumindest, wenn man – wie die Mehrheit der Völkerrechtler es tut – der deklarativen Theorie folgt. Entscheidend ist, dass die drei eingangs erwähnten Elemente der Staatlichkeit vorliegen: und Palästina fehlt die hinreichende Souveränität nach innen und außen. Zum einen sind die Palästinensergebiete zwischen der Fatah in der West Bank und der Hamas im Gaza-Streifen aufgeteilt, es gibt also keine einheitliche Zentralgewalt. Zum anderen kontrolliert Israel die Grenzen, den Luftraum und kann jederzeit in die Palästinensergebiete eindringen, um Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und ähnliches durchzuführen. Es gilt daher allgemein als Besatzungsmacht, Palästina hat im Umkehrschluss keine effektive Kontrolle über das Staatsgebiet.
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2.) Israel als Besatzungsmacht
Allerdings ist Israel nicht direkt und dauerhaft mit eigenen Truppen vor Ort präsent. Laut der immer noch allgemein gültigen Definition von Besatzungen in Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung von 1907 zählt allerdings die faktische Kontrolle über feindliches Gebiet:
Ein Gebiet gilt als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.
Darüber, ob und inwiefern Israels Militär diese Voraussetzungen erfüllt, lässt sich vortrefflich streiten. Israel bestreitet diesen Status und spricht von „disputed terrories“. Demgemäß wendet es laut eigenen Angaben zwar die einschlägige völkerrechtliche Konvention (das IV. Genfer Abkommen), aber eben freiwillig und nicht, weil es dazu verpflichtet wäre.
Dem stehen Resolutionen der UN-Generalversammlung, der UN-Menschenrechtsrat oder ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs zum Mauerbau an der Westbank entgegen. Auch ein UN-Bericht von 2009 geht in Gaza aufgrund der oben genannten israelischen Kontrolle vom Status als Besatzungsmacht aus (der „Goldstone-Report“ gilt zwar als umstritten, zumal Richard Goldstone ihn aufgrund neuer Erkentnisse selbst in Zweifel gezogen hatte; die darin befindlichen Ausführungen zum Status als Besatzungsmacht sind davon allerdings nicht umfasst). Im Zusammenhang mit der Westbank betonte der Internationale Gerichtshof wiederum, dass Israel die Kontrolle im Inneren nur teilweise an die Palästinensische Autonomiebehörde übergeben hat.
Daraus folgt aber, dass Israel keine „klassische“ beziehungsweise „typische“ Besatzungsmacht ist. Daher kommen auch nicht alle Verpflichtungen für Besatzungsmächte zur Anwendung (beziehungsweise nicht vollumfänglich): Vielmehr ist es beispielsweise verpflichtet, ausreichend Hilfsgüter und andere Lieferungen in die Palästinensergebiete zu lassen, um Mindeststandards in Sachen Hygiene und allgemein ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Für die Verteilung oder Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren ist die Hamas beziehungsweise die Fatah zuständig. Zuletzt wurde das Ausmaß der israelischen Verpflichtungen gegenüber den Palästinensern im Zusammen mit Impfungen thematisiert: Israel muss sein Gesundheitspersonal nicht direkt in die Palästinensergebiete schicken, zumal sie dort bedroht wären. Vielmehr müsste es entweder Impfungen liefern (was allerdings Befürchtungen nährt, dass die Hamas die Impfungen im Tausch gegen Waffen weitergeben könnte; davon abgesehen ist die Lagerung bei vielen Impfstoffen bekanntlich schwierig) oder den Palästinensern in den besetzten Gebieten die Möglichkeit geben, sich im Grenzbereich (nach Sicherheitsüberprüfungen beim Grenzübertritt) impfen zu lassen.
3.) Das Selbstverteidigungsrecht
Der Status als Besatzungsmacht spielt außerdem bei einer weiteren emotionalen (rechtlichen) Frage eine Rolle: Dem israelischen Recht auf Selbstverteidigung. Dieses steht jedem Staat gemäß Artikel 51 der UN-Satzung zu, es ist ein „inhärentes“ Recht. Allerdings wird Israel, wie gesagt, (1.) nicht von einem anderen Staat angegriffen, sondern von einem nicht-staatlichen terroristischen Akteur (der Hamas und anderen militanten Gruppen) und (2.) von Gebiet, das zumindest teilweise besetzt wird. Insofern ist es rechtlich verfehlt, hier von Selbstverteidigung zu sprechen. Vielmehr kann Israel sich auf die (rechtliche) Möglichkeit berufen, zur eigenen Sicherheit in einem von seinen Streitkräften besetzten auch Gewalt anzuwenden (für Nähere siehe hier und hier).
Daneben wird dem israelischen Recht auf Gewaltanwendung bisweilen die Frage gegenübergestellt, ob die Palästinenser ihrerseits ein Recht auf Selbstverteidigung haben.
Allgemein gibt es freilich keine Selbstverteidigung gegen Selbstverteidigung. Dieses Recht steht nur gegen einen „bewaffneten Angriff“ zu. Also ein Erstschlag oder wenn die Selbstverteidigung nicht (mehr) verhältnismäßig ist und der Verteidiger damit zum Angreifer wird.
Auf Palästina bezogen besteht außerdem das oben genannte völkerrechtliche Problem, dass die Angriffe auf Israel nicht von genuin-fremdem Staatsgebiet aus erfolgen. Wir bewegen uns hier wie gesagt nicht im Rahmen des zwischenstaatlichen Selbstverteidigungsrechts, sondern im Besatzungsrecht. Palästinas umstrittener rechtlicher Status ist außerdem im Lichte des Selbstbestimmungsrechts zu beurteilen, das den Palästinensern als Volk zukommt (wie der Internationale Gerichtshof im oben genannten Rechtsgutachten festgestellt hat): Es soll jedenfalls ein Staat werden, die große Frage lautet wie. Vereinzelt wird sogar argumentiert, dass es aufgrund des Selbstbestimmungsrechts ein Recht auf den Einsatz von Waffengewalt hat, um sich gegen die israelische Unterdrückung zu wehren und/oder einen eigenen Staat zu erkämpfen.
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4.) Regeln der Kriegsführung
Jedwede Waffengewalt muss allerdings das Recht bewaffneter Konflikte (auch als humanitäres Völkerrecht bezeichnet) einhalten: Dieses verbietet gezielte Angriffe auf Zivilisten oder auf zivile Gebäude. Wenn bei Angriffen auf militärische Ziele zivile Opfer beziehungsweise Schäden zu befürchten sind, müssen sie das gemäß Artikel 51 Absatz 5 litera b des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen das Verhältnis zum militärischen Vorteil wahren, im Idealfall müssen vor dem Angriff effektive Warnungen ergehen (sofern keine zwingenden strategischen Gründe dagegensprechen). Unverhältnismäßige Angriffe sind Kriegsverbrechen.
Das klingt in der Theorie freilich leichter als es in der Praxis umgesetzt werden kann. Die Hamas nützt bekanntlich (siehe beispielsweise diese Stellungnahme von UNRWA) zivile Gebiete oder auch Gebäude als Rückzugs-, Planungs- oder Abschussorte, was seinerseits Kriegsverbrechen darstellt (Artikel 8 lit b (xxiii Römisches Status des Internationalen Strafgerichtshofs).
Besonders schwierig gestaltet sich der Umgang mit Objekten, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen, sogenannte dual use-Objekte. Zuletzt sorgte die Zerstörung eines Gebäudes im Gazstreifen für Aufsehen, das von internationalen Medien genutzt wurde. Laut israelischen Angaben beherbergte es allerdings auch die Hamas. Aufgrund der Warnungen kam es zu keinen Todesopfern, wohl aber wurde neben dem Gebäude selbst auch ziviles Equipment zerstört. Die rechtliche Beurteilung dieses Vorgehens richtet sich insofern nach den zivilen Schäden (hier spielt auch die Presse- und Medienfreiheit eine Rolle) und der strategischen Bedeutung für den bewaffneten Arm der Hamas. Um hier ein abschließendes Urteil zu fällen, bräuchte es mehr Informationen.
[Update: Mittlerweile hat Blinken anscheinend mehr Information zum Angriff auf das Medienhaus bekommen, sie aber nicht öffentlich weiter kommentiert; wir sind also so unklug wie vorher]
5.) Krieg und Neutralität
Bleibt die Frage, wie man den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern völkerrechtlich einstuft. Schließlich kennt das humanitäre Völkerrecht nur zwei Konflikttypen: Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt vor, wenn die Streitkräfte von zwei oder mehreren Staaten miteinander Krieg führen. So weit, so simpel, das ist bei Israel und der Hamas und anderen Gruppen zweifelsohne nicht der Fall.
Im Umkehrschluss könnte man daher also von einem nicht-staatlichen bewaffneten Konflikt sprechen, die Hamas ist trotz ihrer Kontrolle über den Gazastreifen kein Staat und auch kein staatlicher Akteur: Allerdings operieren die Israelischen Streitkräfte (IDF) außerhalb des eigenen Staatsgebiets. Hinzu kommt, dass das erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen in einem hoch umstrittenen Passus sogenannte Befreiungskriege ebenfalls als internationale bewaffnete Konflikte einstuft. Damit waren neben den kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen auch Südafrika und Israel gemeint. Auch wenn Israel diesem Vertrag daher bis heute nicht beigetreten ist, hat er aufgrund der vielen Vertragsparteien (174) einen hohen völkerrechtlichen Wert. Wenn man den Kampf der Hamas als „Befreiungskrieg“ einstuft, wäre er damit ein internationaler bewaffneter Konflikt. Dagegen spricht allerdings der Status der Hamas als Terrororganisation (auch in der EU). Die alte Losung „One man’s terrorist is another man’s freedom fighter“ gilt hier also nicht.
Für das Kriegsvölkerrecht ist die Unterscheidung dieser beiden Konflikttypen über weite Strecken zwar irrelevant: Wie der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien – wo sich die Frage stellte, ab wann aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg ein Konflikt zwischen (neu entstandenen) Staaten wurde – hat bereits in seinem ersten Verfahren (der Tadić-Fall) betont, dass was in internationalen Konflikten verboten ist, in Bürgerkriegen auch nur verboten sein kann: Aus Sicht des Opfers ist diese rechtliche Einordnung schließlich egal.
Drei zentrale Unterschiede bestehen dennoch: (1.) Die Liste der Kriegsverbrechen ist in internationalen Konflikten länger (was daran liegt, dass Staaten sich in Konflikten innerhalb ihres Staatsgebiets weniger „dreinreden“ lassen wollen), (2.) den Kombattantenstatus gibt es nur in zwischenstaatlichen Konflikten und (3.) kommt die dritte Genfer Konvention zu Kriegsgefangenen ebenfalls nur hier zur Anwendung. Daraus folgt vor allem, dass Israel gefangen genommene Hamas-Kämpfer und sonstige Terror(verdächtige) nach Ende der Kampfhandlungen nicht freilassen muss (wie dies bei zwischenstaatlichen Kriegen der Fall ist), sondern nach israelischem Recht bestrafen kann. Sofern sie nicht innerhalb Israels gehandelt haben, kann hier übrigens nicht das strafrechtliche Territorialitätsprinzip zur Anwendung kommen, sondern das „protective principle“ (also die Bestrafung für Straftaten, die vitale Staatsinteressen berühren).
Bleibt zum Abschluss die Frage der Neutralität. Das Hissen der israelischen Flagge auf dem österreichischen Bundeskanzleramt und durch den Außenminister wurde ja teils heftig kritisiert. Der ehemalige Bundespräsident Heinz Fischer schreibt in der Wiener Zeitung etwa Folgendes:
Wir wissen ja, dass Netanjahu Innenpolitik durch Außenpolitik und Außenpolitik durch Innenpolitik betreibt. Daher empfinde ich es als schmerzlich, dass gerade das neutrale Österreich in diesem tragischen Konflikt jetzt Einseitigkeit demonstriert. Zur Rechtfertigung wird gesagt, es könne gegenüber Terror keine Neutralität geben. Will man wirklich diesen mehr als 70-jährigen komplexen und vielschichtigen Konflikt der beiden Kulturen und Nationalitäten, diesen permanenten, teils militärisch, teils mit anderen Waffen ausgetragenen Kampf zwischen der stärksten Militärmacht im Nahen Osten und den Palästinensern auf einen Terrorakt reduzieren, der Österreich zwingt, seine Neutralität und seine (ohnehin nur noch schwache) Rolle als fairer Gesprächspartner für beide Seiten aufzugeben?
Aus rein-neutralitätsrechtlicher Sicht spricht zwar nichts gegen die Flagge. Österreich ist nicht „gesinnungsneutral“ und kann seine Solidarität ebenso bekunden wie es sich eindeutig positionieren darf. Eine Verletzung der Neutralität könnte man erst diskutieren,wenn das Bundesheer Seite an Seite mit den IDF in Gaza einmarschiert (und selbst das ließe sich neutralitätsrechtlich damit argumentieren, dass es sich um keinen (zwischenstaatlichen) Krieg im Sinne des Völkerrechts handelt; aber das ist freilich ohnehin nur graue Theorie).
Politisch sieht es freilich anders aus. Hier versucht Österreich einen Spagat, der selbst Van Damme zu seinen besten Zeiten vor eine Herausforderung stellen würde (s.u.): Eine eindeutige Positionierung in einem der seit Jahrzehnten weltpolitisch heikelsten Konflikte bei gleichzeitigem Bemühen, als Gastland für internationale Konferenzen wie den Irangesprächen zu dienen (man spricht hier übrigens von „good offices“, Österreich nimmt dabei keine Mediatorenrolle ein). Zuletzt hatte der iranische Außenminister aufgrund der Flagge seinen Wienbesuch abgesagt. Was das für die Irangespräche bedeutet, wird sich weisen. Wie auch immer man zur Flagge steht: Österreichs Außenpolitik kann nicht alles haben.
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