Im Zuge der Krim-Invasion vom März 2014 hat der Europarat Russland sein Stimmrecht entzogen. Jetzt wurde diese Suspendierung beendet. Back to normal?
Kinder, wie die Zeit vergeht. Fünf Jahre liegt die Invasion und spätere räumliche Einverleibung der Krim-Halbinsel durch Russland schon zurück. Es folgte eine Resolution der UN-Generalversammlung (jedoch nicht einstimmig, lediglich 100 Staaten hatten dafür gestimmt, 58 Enthaltungen und 24 Staaten blieben abwesend), Sanktionen der EU und der USA und der Entzug des russischen Stimmrechts im Europarat. Achja, und zwei Artikel meinerseits im Online-Standard (hier und hier).
Viel Kritik
Jetzt hat Russland sein Stimmrecht zurückerhalten, obwohl die Krim nach wie vor annektiert bleibt und auch der russisch-unterstützte Krieg in der Ostukraine weiter anhält. Was nicht alle begrüßen, ganz im Gegenteil: In der NZZ liest man davon, dass der Europarat vor Russland „kuscht“, von „nicht zu übersehender Unterwürfigkeit“ ist die Rede. Russland hatte schließlich damit gedroht, den Europarat ganz zu verlassen, was man vermeiden wollte. So sollte eine Verschlechterung der Menschenrechtslage in Russland verhindert werden.
Die Grenzen des Völkerrechts
Staaten sind dazu aufgerufen, Situationen, die sich aus schwerwiegenden Völkerrechtsverletzungen ergeben, nicht anzuerkennen. Darunter fallen auch gewaltsam herbeigeführte Einverleibungen fremden Staatsgebiets (man spricht hier von der „Stimson-Doktrin“, die auf den US-Außenminister während der japanischen Invasion in der chinesischen Mandschurei 1931 zurückgeht; er hatte damals bekanntgegeben, die dortige Errichtung eines Marionettenstaats aufgrund ihrer Völkerrechtswidrigkeit nicht anzuerkennen)
Back to normal?
Die Suspendierung von Mitgliedschaftsrechten in internationalen Organisationen ist dabei ein zentrales Instrument, es wird ungleich häufiger angewandt als der Ausschluss aus internationalen Organisationen. Weil der betroffene Staat damit besser greifbar bleibt. Mit einem Mitglied, das gewisse Rechte nicht ausüben kann, lässt sich immer noch leichter reden als nach einem Ausschluss.
Jetzt wurde allerdings der status quo ante (also vor der Krim-Besetzung) wiederhergestellt. Zumal die Suspendierung nicht viel gebracht haben dürfte. Ein Lehrbuchbeispiel für die normative Kraft des Faktischen im Sinne des österreichisch-deutschen Juristen Georg Jellinek. Kurz zusammengefasst: Wenn etwas ist, wird es irgendwann akzeptiert, auch wenn es vielen nicht gefällt – weil’s immer schon so war würde der Wiener sagen. Wobei die Krim ja nicht immer schon Teil Russlands war (Nikita Chruschtschow hatte sie 1954 der Ukraine geschenkt); also eher „weil es schon lange so ist“. Übrigens gab es für die Türkei nach der Invasion Nordzyperns keine Sanktionen im Europarat.
(zum Abschluss noch ein längeres Zitat aus Jellineks Allgemeinen Staatslehre (dritte Auflage, 1912)):
Alles Recht in einem Volke ist ursprünglich nichts als faktische Übung. Die fortdauernde Übung erzeugt die Vorstellung des Normativen dieser Übung, und es erscheint damit die Norm selbst als autoritäres Gebot des Gemeinwesens, also als Rechtsnorm. Dadurch erhalt auch das Problem des Gewohnheitsrechtes seine Losung.
Das Gewohnheitsrecht entspringt nicht dem Volksgeiste, der es sanktioniert, nicht der Gesamtüberzeugung, daB etwas kraft seiner inneren Notwendigkeit Recht sei, nicht einem stillschweigenden Willensakt des Volkes, sondern es entsteht aus der allgemeinen psychischen Eigenschaft, welche das sich stets wiederholende Faktische als das Normative ansieht; der Ursprung der verbindenden Kraft des Gewohnheitsrechtes fällt ganz zusammen mit dem der verbindenden Kraft des Zeremoniells oder der Mode.…
Die Umwandlung der zunächst überall rein faktischen Macht des Staates in rechtliche erfolgt stets durch die hinzutretende Vorstellung, daB dieses Faktische normativer Art sei, dass es so sein solle, wie es ist. Also rein innerlich, in den Köpfen der Kenntnis hat, daß das Recht, wie alle sozialen Erscheinungen, in uns, nicht außer uns seinen Sitz hat, wird darin nichts Ver- wunderliches finden. Daher kann die einer späteren Zeit noch so unbillig scheinende Machtverteilung in einem Gemeinwesen, die Ausbeutung abhängiger Klassen durch die herrschenden in vollem Maße Rechtscharakter gewinnen nicht nur in dem Sinne, dass sie von der Macht geboten, sondern auch dadurch, dass sie von den Unterworfenen anerkannt wird.