Darf man Wladimir Putin, Sergei Lavrov oder auch George W. Bush als Kriegsverbrecher bezeichnen? Ein paar Beobachtungen zu juristischer und moralischer Verantwortung.
Der ORF-Kriegsberichterstatter Christian Wehrschütz hat dem Standard ein interessantes Interview gegeben. Zur Ukraine, seinen früheren Erfahrungen in Jugoslawien oder dazu, ab wann man von einem „Massaker“ sprechen sollte.
Dabei hat er auch erklärt, dass er Radovan Karadzic und Ratko Mladic bis zum Ende des Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) als „mutmaßliche“ Kriegsverbrecher bezeichnet hat. Das ist formell korrekt und durchaus gerechtfertigt, keine Frage. Es zeigt aber auch ein sprachliches Spannungsverhältnis zwischen Recht und Moral auf. Sagen, was ist oder Zweifel bis zum Schluss?
Krieg und Wahrheit
„Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit“ sagt ein geflügeltes Wort zu Propaganda und Berichterstattung während Konflikten. Man kennt die vielen Lügen vor, während und nach Kriegen: Ob „Brutkastenlüge“ oder die aktuelle russische Taktik, einfach alles abzustreiten und selbst die absurdesten Legenden zu verbreiten: Von „Biolaboren“ bis hin zu „genetischer Kriegsführung“ gegen ethnische Russen. Was für uns nach offensichtlichem Stuß klingt, ist für andere Wahrheit oder zumindest begründeter Verdacht.
Das bringt uns zu Kriegsverbrechen: Staaten geben sie typischerweise ebensowenig zu wie die konkreten Täter. Und selbst wenn, finden sie Rechtfertigungen: „Wir mussten sie töten, bevor sie uns töten“ ist einer der häufigsten „Gründe“ für Genozide. Ansonsten kann man natürlich auch behaupten, dass Zivilisten eigentlich vom Gegner getötet wurden. Oder gar keine Zivilisten waren. Oder sie als „menschliche Schutzschilder“ für Kombattanten gedient haben.
Vom Schreibtisch aus ist das freilich schwer zu beurteilen. Journalistisch kann man sich damit behelfen, von „mutmaßlichen“ Kriegsverbrechen oder Kriegsverbrechern zu schreiben. Es gilt die Unschuldsvermutung. Das ist auch gut so, Journalisten sind nicht dazu da, ungeprüft binnen jedes Wort von Regierungen oder bewaffneten Gruppierungen 1:1 wiederzugeben und als Wahrheit zu präsentieren.
Nur: Wie weit will man hier gehen, wie lange will man diesen Zusatz beibehalten? Ab wann darf, ja soll man jemanden als „Kriegsverbrecher“ bezeichnen, ganz ohne „mutmaßlich“?
Ein Fall ist klar: Wie Herr Wehrschütz sagt, hat er das getan, nachdem die Verfahren gegen Karadzic und Mladic zu Ende waren. Allerdings stand deren Schuld schon vor Ende des Verfahrens fest, die Faktenlage war aufgrund früherer Verfahren eindeutig. Das Gericht hat nur noch bestätigt, was jeder wusste. Auch wenn selbst beim ICTY manche von „Bias“ sprechen: Er war ein internationales Gericht, das vom Sicherheitsrat einberufen wurde und aller berechtigten Kritik zum Trotz auf Basis von aufwendigen und fairen Verfahren entschieden hat. Wer vom ICTY wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde, ist ein Kriegsverbrecher.
Kein Gericht, nirgends?
Nur: Das ist die Ausnahme. Jeder verurteilte Kriegsverbrecher ist ein Kriegsverbrecher, aber nicht jeder Kriegsverbrecher wird verurteilt. Im Gegenteil, viele wurden und werden nie vor ein internationales Gericht gestellt. Oft gibt es gar kein Gericht bzw. ist es gar nicht zuständig, oft werden Verbrecher nicht festgenommen und ausgeliefert, bisweilen nehmen sie sich vor oder während eines Verfahrens das Leben. Auch innerstaatliche Gerichte werden ihrer Aufgabe oft nicht gerecht, weil sie entweder keine fairen Verfahren führen oder Täter laufen lassen. Außerdem kann man Urteile man denke an die „Gerichte“ in den beiden „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk – nicht immer ernst nehmen.
Allein, die Schuldfrage wird nicht nur vor Gerichten geklärt. Zumal (internationale) Gerichte keine Wahrheitskommissionen sind. Sie klären einzelne Sachverhalte, aber nicht alles auf. Nur weil jemand niemals schuldig gesprochen wurde, heißt da s nicht, dass er unschuldig ist. Selbst in den eindeutigsten Fällen von „mutmaßlich“ zu sprechen, führt die Unschuldsvermutung (für Österreich siehe dazu § 7b Mediengesetz) ad absurdum.
Wann dieser Punkt erreicht ist, lässt sich im Abstrakten freilich schwer sagen. Eindeutig ist es nicht immer, keine Frage. Adolf Hitler, um Godwin’s law zuschlagen zu lassen, wurde auch nie verurteilt, und dennoch würde ihn keine ernst zu nehmende Person als „mutmaßlichen“ (Kriegs-)Verbrecher oder Völkermörder bezeichnen.
Gut, es ist nicht immer so eindeutig. Was geht vor, Rest-Zweifel oder die eindeutige Benennung von Verbrechen und Verbrechern? Fest steht, dass die Unschuldsvermutung nicht absolut gilt. Je größer das Verbrechen und desto eindeutiger die Beweise, umso mehr verkommen Worte wie „mutmaßlich“ zu Apologie für die dahinterstehenden Täter.
Woher weiß man das? Nun, um die (gemeinsame) Faktenlage aufzubereiten gibt es Historiker, Menschenrechtsorganisationen oder von internationalen Organisationen eingesetzte Untersuchungskommissionen. Man mus nicht immer alles „so sehen und so sehen“. Bisweilen sind Verbrechen und ihre Urheber eindeutig. Auch ohne gerichtliche Verurteilung.