Es ist leider wieder einmal so weit: Ein trauriger Anlassfall und die immergleichen politischen Debatten. Hätte eine Abschiebung nach Afghanistan einen Mord verhindern können? Und darf man überhaupt nach Afghanistan abschieben?
Eine entsetzliche Geschichte, die für sich selbst spricht: Ein dreizehnjähriges Mädchen wird mit Drogen gefügig gemacht und später getötet, sie wurde auf der Straße regelrecht „abgelegt“. Zwei Tatverdächtige sind gefunden, es sind afghanische Staatsbürger, die auch „amtsbekannt“ gewesen sein sollen, also bereits strafrechtlich aufgefallen sind. Die politischen Reaktionen sind dementsprechend erwartbar: Volle Härte des Gesetzes, konsequente und schnellere Abschiebungen nach Afghanistan.
Abschiebungen: Viel Conversation, little action
Wo nach einfachen und harten Lösungen gelechzt wird, setzt die Realität ein. „Schnellere Abschiebungen“ sagt sich leicht und macht sich schwer: Wie viele Abschiebungen scheitern (und woran) wissen wir in Österreich nicht (im Gegensatz zu Deutschland, hier könnte man sich mal wieder einiges abschauen). Was wir wissen, ist, dass es seit Jahren einen „deportation gap“ gibt, die Zahl der rechtskräftig abgelehnten Asylwerber also die Zahl derjenigen übersteigt, die das Land freiwillig verlassen oder zwangsweise in ihre Heimat zurückgebracht werden. Das ist aufgrund statistischer Tücken dennoch allenfalls eine Annäherung, aber die Grundtendenz lässt sich nicht von der Hand weisen (ich habe dazu bei Addendum etwas geschrieben, es ist nach wie vor gültig), die Europäische Kommission lamentiert schon im September 2017 die allgemein niedrigen Rückkehrraten:
When only 36% of irregular migrants are returned, it is clear we need to significantly step up our work. Having an effective system to return those who have no right to stay is the only way Europe will be able to show solidarity with refugees in real need of protection. Effective returns would also be a strong signal against taking dangerous irregular journeys to the EU in the first place. The existing EU legislation32 already provides a common set of rules for national return systems to follow and implement.
Quelle
Das kann viele Gründe haben: Menschen lassen sich oft nicht abschieben, weil ihr wahres Ursprungsland unklar ist, ihre mutmaßliche Heimat nichts mit ihnen zu tun haben will (es gibt eine allgemeine völkerrechtliche Verpflichtung, eigene Staatsbürger zurückzunehmen), die Zusammenarbeit generell schwierig wird, Abschiebungen aus Krankheit oder allen möglichen anderen Gründen scheitern.
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Dasselbe gilt auch, wenn jemand seinen Flüchtlings- oder sonstigen Aufenthaltstatus aufgrund von Straftaten verliert. Nur weil man jemandem Asyl aberkennt heißt das nicht, dass er das Land verlässt beziehungsweise außer Landes gebracht wird. So vegetieren Menschen – etwas mehr als die Hälfte der illegal Aufhältigen in der EU sind junge Männer zwischen 18 und 34, Afghanistan ist das häufigste Herkunftsland – mit wenig Perspektiven in Europa, ohne dass jemand weiß, was man mit ihnen anfangen soll.
Die EMRK
Und neben alledem steht die Europäische Menschenrechtskonvention: Wie wir schon unzählige Male durchexerziert haben, verbietet Artikel 3 Abschiebungen in Länder, in denen Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung/Strafe ernsthaft droht („real risk“, siehe hier). Völlig unabhängig davon, wie der Betroffene sich verhalten hat, ob er ein Terrorist, Vergewaltiger, Mörder oder unbescholten, bestens integriert und berufstätig ist. Niemand darf gefoltert oder unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden, so die einfache, aber dennoch immer wieder im öffentlichen Diskurs scharf kommentierte Prämisse.

Damit bleibt von der Forderung nach schnelleren beziehungsweise „Abschiebung bei Straffälligen auch während Asylverfahren“ (Karoline Edtstadler) nicht viel übrig: Bei Verurteilungen wegen schwerwiegender Verbrechen sind ohnehin eine mehrjährige Haftstrafen vorgesehen, es wird also nichts beschleunigt. Zwar ist die freiwillige Ausreise nach der Hälfte der Strafe oder eine Verbüßung der Zeit im Gefängnis im Zielland der Abschiebung möglich. Letzteres fällt aber gerade bei Asylwerbern aus Ländern wie Afghanistan flach, weil weder garantiert werden kann, dass sie tatsächlich bestraft werden, noch, dass die Haftbedingungen dort nicht gegen Artikel 3 EMRK verstoßen. Womit wir wieder bei der Prämisse wären, dass niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem eine Verletzung dieser Bestimmung ernsthaft droht.
Wieso ausgerechnet einer der beiden vorbestraften Verdächtigen des Mords an dem dreizehnjährigen Mädchen hierbleiben konnte, ist derzeit Gegenstand der Diskussion: Das Innenministerium/das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sieht die Verantwortung beim Bundesverwaltungsgericht. Allerdings ging es anscheinend selbst davon aus, dass eine Abschiebung unzulässig sei, weswegen der Verdächtige weiterhin „geduldet“ wurde (davon spricht man, wenn eine Abschiebung nicht möglich oder nicht zulässig ist). Das könnte im Übrigen auch daran liegen, dass unbegleitete Minderjährige (der Täter soll zum relevanten Zeitpunkt unter 18 Jahre alt gewesen sein) nur abgeschoben werden dürfen, wenn es in ihrem Heimatland „angemessene Aufnahmebedingungen“ gibt.
Zur Lage in Afghanistan
Das ist bei Afghanistan offensichtlich nicht der Fall, es ist liegt im Fragile State Index auf dem 9. Platz der instabilsten Länder, im Global Peace Index auf Platz 163, womit es das am wenigsten friedliche Land der Welt ist. Laut dem UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) war Afghanistan 2018 das zweitgrößte Herkunftsland von Asylwerbern weltweit, innerhalb der EU liegt es schon lange im „Spitzenfeld“ (gemeinsam mit Syrien und, jedenfalls 2020, Pakistan, siehe auch hier für Eurostat-Zahlen und hier für die aktuellsten Informationen von UNHCR).
Die Anerkennungsquoten für afghanische Asylwerber sind innerhalb der EU seit jeher unterschiedlich, aber durchwegs hoch. Der für den 11. September vorgesehene endgültige US-Truppenabzug wird gewiss nicht zur Stabilität beitragen, die wackelige Regierung und ihre Truppen werden schon jetzt von den Taliban überrannt. Die International Crisis Group warnte schon bei der Bekanntgabe des Truppenabzugs im April 2021, dass ein Bürgerkrieg ausbrechen dürfte.
Innerhalb der EU wird dennoch weiter abgeschoben, auch von Österreich. Im Jänner 2021 wurde mit einer eigenen gemeinsamen Erklärung ein entsprechender Rahmen beschlossen
to cooperate closely in order to organise the dignified, safe and orderly return of Afghan nationals to Afghanistan who do not fulfil the conditions to stay in the EU … Afghan nationals who are found to have no legal basis to remain in an EU Member State, whose protection needs or compelling humanitarian reasons, if any, have been considered in accordance with the applicable legislation and who have received an enforceable decision to leave that Member State, can choose to return voluntarily. Both sides agree that this option is the preferred manner of organising the return of Afghan nationals.
Der EU läuft in Sachen Abschiebungen nach Afghanistan die Zeit davon. Spätestens, wenn beziehungsweise falls die Taliban vollständig übernehmen, hat man keinen „Partner“ (wenn man von der gegenwärtigen fragilen offiziellen Regierung von einem solchen sprechen kann) mehr. Zur Erinnerung: Die Taliban waren in den 1990ern (1996-2001) international isoliert, nur drei Staaten – die Vereinigten Arabischen Emirate, Pakistan und Saudi-Arabien – hatten sie anerkannt. Eine Zusammenarbeit in Sachen Abschiebungen erscheint insofern dezent illusorisch.
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